Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 316

Über Gustav Mahler (Graf, Dr. Max)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 316

Text

GRAF: ÜBER GUSTAV MAHLER.

Radetzky«. Ohne einen kleinen Zusatz
von patriarchalischer Biedermännerei und
Schwachsinnigkeit können sich die Wiener
nun einmal ihre Heroen nicht recht
denken Kein Wunder, dass der Wiener
Geist sich gegen Mahler mit den stärksten
Krämpfen wehrt. Denn hier sieht er sich
einem guten Europäer gegenüber von
einer hohen Elektricität, Spannung und
Energie der geistigen Kräfte, von einem
rücksichtslosen Fanatismus im Erfassen
künstlerischer Aufgaben, von einer ausser-
ordentlichen Explosivkraft und Reizbarkeit.
Die Verblüffung, die dieser Mann, dem es
vor Jahren in kürzester Zeit gelungen
war, sogar das Budapester Opernhaus
beinahe auf die Höhe eines europäischen
Theaters zu bringen, bei seiner ersten
Thätigkeit in Wien hervorgerufen hatte,
war eine so vollständige, dass es eine
Zeitlang gar keine oppositionelle Kritik
gab. Allgemein wurde die Furcht laut,
dass er sich in kürzester Zeit verbrauchen
müsste. Mit vollstem Unrechte und in
grösster Verkennung dieser nervösen
Natur, deren Lebensatmosphäre eben der
höchstgespannte Energie- und Arbeits-
verbrauch ist, und welche wohl an der Ruhe
zugrunde gehen müsste. Noch mehr ver-
kennt man diese höchst complicierte, daher
auch mit höheren Reibungs-Coëfficienten
arbeitende Natur, wenn man ihr die
kleinen Explosionen bei kleinlichen An-
lässen nachträgt. Dieselben beweisen nur
die hohe Spannung der nervösen Energie
dieses merkwürdigen Künstlers, die, auf
rein künstlerisches Gebiet gelenkt, Wunder
wirkt.

Vielleicht noch grösser als seine
Energie ist die Geschmeidigkeit und
Biegsamkeit seines Geistes, die es ihm
erlaubt, sich von Werk zu Werk, von
Künstler zu Künstler derart zu verwandeln,
dass er Werke und Künstler mit den
feinsten Zeit- und Stileigenthümlichkeiten
zu reproducieren imstande ist. Diese Gabe,
mit jedem Werke sich zu häuten, umzu-
schmiegen und sich ganz vom Geiste des
Werkes erfüllen zu lassen, alte Werke mit
geistreicher Überlegenheit historisch zu
empfinden, moderne innerlich-bewegt als
Mensch des XIX. Jahrhunderts, ist vor allem
das Kriterion einer eminent modernen Be-
gabung. An den äussersten Grenzen seines

Talentes stehen so auf der einen Seite
Wagners »Tristan und Isolde«, auf der
anderen Mozarts »Figaros Hochzeit«.
Dort jenes furchtbar grandiose Werk,
in welchem Wagner gleichsam alle bösen
Säfte seines Innern, alle Wunden, Gifte,
Geschwüre ausgeschwitzt hat, bevor er
in erlöster Kraft und Heiterkeit die »Meister-
singer von Nürnberg« schrieb; hier das
Renaissancewerk Mozarts, auf welchem
die Abendsonne einer sterbenden, alt- und
reifgewordenen Epoche der europäischen
Civilisation liegt. Jenes dirigiert Mahler
mit einer passionierten und ergriffenen
Exaltation, die alle Leidenschaften des
Werkes aus tiefstem Grunde aufpeitscht.
Dieses mit einer zärtlichen und geistreichen
Heiterkeit, die den intimsten Wen-
dungen der Musik den letzten Glanz der
Vollkommenheit gibt. Diese zwei Werke,
die man bisher im Wiener Opernhaus nie
so vollendet gehört hat, scheinen mir
Tiefen und Höhen der Natur Mahlers als
Grenzen einzuschliessen. An diesen Grenzen
explodiert sein Talent am glänzendsten,
intensivsten, blendendsten Die Mittel-
lage der Begabung — ungefähr Beethoven-
Symphonien, Meistersinger, Siegfried —
scheint mir weniger kräftig, wie oft bei
Violinen E- und G-Saite prachtvoll klingen,
die Mittelsaiten stumpf und matt. Hier ist
Hans Richter, der mehr Roastbeef und
weniger Nerven im Leibe hat, der stärkere
Mann. Ich sehe in diesen beiden Männern
nicht Gegensätze, sondern Ergänzungen,
und zwar die merkwürdigsten und voll-
kommensten. Wo die Grenzen Richters
enden, fängt die Begabung Mahlers erst
an, und selbst bei der grössten Verehrung
für jenen starken und männlichen Künstler
muss ich sagen, dass er nie weder der
innerlichsten Vertiefungen und Ergriffen-
heiten, wie sie »Tristan und Isolde« zur
vollkommenen Reproduction fordert, noch
jener geistreichen Heiterkeit, wie sie ein
Werk Mozarts verlangt, fähig war; dafür
aber in mittleren Atmosphären von Kraft
und Energie des Geistes Grandioses leistete.

Ein Mann wie Mahler als Director des
Wiener Operntheaters bedeutet thatsächlich
die Revolution. Man denke: ein Künstler,
kein Bureaukrat; ein starkes menschliches
Temperament mit Sympathien, Abneigun-
gen, Begeisterungen, Depressionen, Launen,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 13, S. 316, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-13_n0316.html)