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Wenn wir das religiöse Leben der
Menschheit betrachten, so finden wir drei
Classen von Gläubigen; nämlich erstens
diejenigen, welche von religiösen Dingen
keinen Begriff haben und deshalb glauben,
dass alle Religion nur Betrug und Täuschung
sei. Sie sehen von der Nuss nur die harte
Schale und wollen von ihr nichts wissen.
Hiezu gehören viele sogenannte Materia-
listen, Atheisten und »Freidenker«, deren
Denkfreiheit in Gedankenlosigkeit besteht.
Die zweite Classe besteht aus frommen
Schwärmern und Phantasten, welche nur
am Buchstabenglauben und äusserlichen
Gebräuchen hängen. Sie lieben die Schale
und haben sich daraus ein Spielzeug ge-
macht. Die dritte Classe besteht aus Den-
jenigen, welche den äusserlichen Formen
entwachsen sind, in der Schale den Kern,
in ihrem Religionssysteme den Geist wahrer
Religion entdeckt haben. Für solche ist die
Bhagavad Gita geschrieben, welche ein
Theil jenes indischen Heldengedichtes ist,
welches die Mahabharata genannt wird,
und in ihr ist der Kampf zwischen dem
Göttlichen und dem Materiellen und Sinn-
lichen im Menschen, zwischen dem Gott-
menschen und dem thierischen, mit Leiden-
schaften behafteten Menschen sinnbildlich
dargestellt.
Die Bhagavad Gita ist wahrscheinlich
das vielgelesenste, aber am wenigsten ver-
standene religiöse Buch in der Welt,
wenn es auch in Europa kaum ausser-
halb der Kreise der »Orientalisten« und
Philologen, die sich viel mehr um deren
Worte als um ihren Geist bekümmert
haben, bekannt ist. Was die Bibel für
den christlichen Mystiker ist, das ist die
Bhagavad Gita für den nach Wahrheit
suchenden Brahmanen und Buddhisten;
eine unerschöpfliche Quelle der Weisheit
und ein Leitfaden auf dem Wege zu einer
höheren Erkenntnis und einem höheren
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Leben. Sie ist das Buch, welches der
nach Heiligung strebende Büsser von
seiner frühesten Jugend an bis zu seinem
Todestage täglich liest, und über dessen
Inhalt er meditiert, und es sind in ihr
nicht nur die höchsten religiösen Geheim-
nisse, sondern auch eine Menge von natur-
wissenschaftlichen Erklärungen enthalten,
deren Betrachtung geeignet wäre, die
moderne Weltanschauung bedeutend zu
erweitern. Besonders aber dürfte ein tie-
feres Studium der Bhagavad Gita für die
christlichen Theologen und Missionäre von
Nutzen sein und deren religiöse Intoleranz
herabstimmen, indem sie dadurch zur
Erkenntnis gelangen könnten, dass alles
Wahre, das in der christlichen Lehre
enthalten ist, auch in der indischen Lehre
zu finden ist, und dass die brahmanischen
und buddhistischen Lehren, ferne davon,
dem wahren Christenthum entgegengesetzt
zu sein, vielmehr dasselbe bestätigen und
ihm die intellectuelle Grundlage, welche
es heutzutage nöthig hat, verleihen.
In seiner äusserlichen Form stellt die
Bhagavad Gita eine Episode aus dem
grossen Kampfe, der um den Besitz des
Königreiches Hastinapura zwischen den
Abkömmlingen der Kurus, den Kauravas
und Pandavas stattfand, nachdem Yudisch-
tira sein Reich, seine Besitzthümer und
sogar seine Frau Draupadi beim Spiele
verloren hatte. Die beiden Armeen trafen
sich auf dem heiligen Felde Dharmat-
schetra, dem ehemaligen Besitzthum der
Weisen. Ardschuna erscheint mit Krischna
auf dem Schlachtfelde, um zu kämpfen.
Indem er aber seine Feinde betrachtet,
findet er unter Denen, die er tödten soll,
seine nächsten Verwandten, Lehrer und
Freunde. Da entsinkt der Bogen seiner
Hand und er will nicht kämpfen. Er will
lieber selbst sterben, als diejenigen tödten,
die ihm theuer sind, und ohne welche
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