Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 351

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 351

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

das Leben keinen Wert für ihn besitzt.
Er wendet sich an seinen Meister Krischna
und bricht klagend in folgende Worte
aus:

»Da ich, o Herr! als meine Blutsverwandten
Nun jene kenne, die ich tödten soll,
So fühl’ ich mich entnervt, die Zunge klebt
Am Gaumen mir, und stille steht mein Herz.
Mein Körper bebt, es sträubt sich mir das Haar,
Mein Arm wird schwach und ihm entfällt der
Bogen,
Den ich gespannt. Wie Fieberglut durchdringt
Die Angst die Glieder; kaum vermag ich mehr
Aufrecht zu stehen; die Gedanken selbst
Verwirren sich, mein Leben scheint zu flieh’n,
Auch seh’ ich vor mir nichts als Leid und Weh.
Nichts Gutes, o Keschav! kann d’raus entspringen,
Wenn sich Verwandte gegenseitig schlachten.



Grossväter, Väter, Söhne seh’ ich hier,
Lehrer und Freunde, Schwäger und Verwandte.
Nicht wünsch’ ich, sie zu tödten, Herr der Welt!
Auch nicht, wenn sie nach meinem Blute
dürsten« u. s. w.

Nun beginnt Krischna seine Ermahnung,
und diese füllt die hierauf folgenden siebzehn
Capitel des Buches aus.

Abgesehen davon, dass ein Schlacht-
feld beim Beginne des Kampfes, wenn die
beiden Heere sich feindlich gegenüber-
stehen, kein geeigneter Ort ist, um lange
philosophische Gespräche zu führen; deutet
auch alles übrige darauf hin, dass diese
Erzählung ebenso wie die des »Neuen
Testamentes« in der Bibel sich weniger
auf ein historisches Ereignis, das einmal
in der Vergangenheit stattgefunden haben
soll, sondern vielmehr auf ewige, sich
stets im einzelnen wiederholende innere
Vorgänge bezieht, folglich symbolisch
aufzufassen, deshalb aber nicht weniger
wahr ist. So z. B. bedeutet das Wort
»Hastinapura« keinen irdischen Ort,
sondern das Reich des Himmels und der
Gotteserkenntnis; die »Kurus und Pan-
davas
« stellen die menschlichen Seelen-
kräfte, Tugenden und Laster, Neigungen
und Begierden dar; Yudischtira ist
der ins Materielle versunkene Mensch,
Draupadi die höhere Seelenregion; der
»Schlachtwagen« ist der menschliche
Körper, in welchem der Mensch auf dieser
Erde wohnt; »Ardschuna« bedeutet den
Menschen selbst, und »Krischna« dessen
geistigen Führer, den Erlöser der Welt.
Diesen Kampf zwischen dem Licht und

dem Dunkel, zwischen dem himmlischen
Menschen des »Paradieses«, welcher aus
dem Lichte geboren ist, und dem irdischen
Menschen, welcher ein Entwicklungsproduct
der thierischen Evolution, ähnlich wie sie
u. a. Darwin gelehrt hat, ist, finden wir
in allen grossen Religionssystemen sinn-
bildlich dargestellt. Im Christenthum als
den Kampf zwischen dem Erzengel
Michael (dem höheren »Ich«) und dem
»Drachen« (dem vergänglichen Selbst),
dessen Rachen die Habsucht, dessen Athem
die Leidenschaft ist, und der sich auf den
Flügeln der Begierde bewegt. Im Persischen
ist es Ormuzd, der Gott des Lichtes,
der mit Ahriman, dem Gott der Nacht
und des Materiellen, ringt; in allen My-
thologien findet sich dieselbe ewige Wahr-
heit, wenn auch in verschiedenen Formen
dargestellt, u. zw. nicht um die Menschen
zu belustigen oder ihre wissenschaftliche
Neugierde zu befriedigen, sondern um sie
anzuregen, selbst diesen Kampf zu unter-
nehmen, und ihnen die Notwendigkeit,
die Kunst der Selbstbeherrschung zu er-
lernen, anschaulich zu machen. Während
sich die meisten solcher Allegorien auf
die blosse Darstellung beschränken und
es dem Leser überlassen, selbst den ge-
heimen Sinn derselben zu entdecken (wozu
nicht jedermann befähigt ist), bieten uns
die Bhagavad Gita und die übrigen Veden
eine wissenschaftliche Grundlage, die allen
Aberglauben und alle Missverständnisse
ausschliesst, wenn man sie richtig erfasst.
Dies ist es wohl, was selbst den ver-
bitterten Schopenhauer entzückt und ihn
bewogen hat, in seiner Parerga (II.
S. 427) zu schreiben:

»Wie wird doch der, dem durch
fleissiges Lesen das Persisch-Latein dieses
unvergleichlichen Buches (das Oupnekhat)
geläufig geworden ist, von jenem Geiste
im Innersten ergriffen! Wie ist doch jede
Zeile so voll ernster, bestimmter und
durchgängig zusammenströmender Be-
deutung! Aus jeder Zeile treten uns tiefe,
ursprüngliche, erhabene Gedanken entgegen,
während ein hoher heiliger Ernst über
dem Ganzen schwebt. Alles athmet hier
indische Luft und ursprüngliches, natur-
verwandtes Dasein. Und, o wie wird hier
der Geist reingewaschen von all dem früh

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 351, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0351.html)