Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 352

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 352

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

eingeimpften jüdischen Aberglauben und
allen, diesen höhnenden Philosophien. Es
ist die belehrendste und erhabenste Lectüre,
die (den Urtext ausgenommen) auf der
Welt möglich ist; sie ist der Trost meines
Lebens gewesen, und wird der meines
Sterbens sein.«

Auch Alexander von Humboldt schreibt,
er danke Gott, dass er ihn habe lange
genug leben lassen, um dieses Buch zu
lesen. — Sollten wir die Bhagavad Gita
mit irgend einem Erzeugnisse der deutschen
theologischen Literatur vergleichen, so
könnten wir sie füglich der »Nachfolge
Christi« von Thomas von Kempen zur
Seite stellen, denn auch in dieser finden
wir bei einem tieferen Studium dieselben
Gedanken, obgleich auch sie nur dem-
jenigen klar werden können, der sich selbst
zur Klarheit der reinen Anschauung empor-
gehoben hat, während sie für den geist-
losen Skeptiker unverständlich sind und es
bleiben. Für denjenigen, der das Licht
scheut und im Materialismus unwieder-
bringlich versunken ist, hat weder das eine
noch das andere Buch einen Wert; aber
wer den göttlichen Funken in seiner Seele
entzünden will, damit er zur Flamme
werde, deren Licht ihm den Weg zum
Bewusstsein seiner Unsterblichkeit er-
leuchtet, ist sowohl in dem einen, als in
dem andern der Schlüssel zur Lösung des
grossen Geheimnisses, des Menschen-
räthsels, enthalten.

Es folgt nun der eigentliche Inhalt der
Bhagavad Gita, in welchem Krischna die
verschiedenen Methoden lehrt, durch welche
der Mensch zur Erkenntnis seines gött-
lichen Daseins gelangen kann; denn ob-
gleich der Weg der Wahrheit und Selbst-
erkenntnis nur ein einziger ist, so gibt es
doch verschiedene Pfade, um auf den-
selben, den Weg des Lichtes, zu ge-
langen.

Vor allem sucht Krischna Ardschuna
die Unterscheidung zwischen dem Unver-
gänglichen und dem Vergänglichen zu
lehren und ihn zur Einsicht zu bringen,
dass die Seele in ihrem wirklichen Wesen
unzerstörbar ist, und dass die Dinge, welche
der Persönlichkeit anhängen, nur selbst-
erzeugte Vorstellungen und folglich Täu-
schungen sind.

»Die Weisen trauern nicht um das, was lebt,
Noch um den Tod. — Nie gab es eine Zeit,
In der ich nicht war, oder du nicht warst.
Auch jene Erdenherrscher waren stets;
Und niemals wird die Zeit in Zukunft kommen,
Wenn nur ein Einziger, der wahrhaft lebt,
Aufhören wird, zu sein. So wie im Leben
Auf Kindheit Jugend und dann Alter folgt,
So folgt Vergehung der Entstehung stets
In den Gefässen, die der Geist bewohnt.
Das, was unsterblich ist im Menschenherzen,
Wird stets aufs neu’ in Leibern offenbar.
Was wahrhaft ist,
Bleibt wirklich stets, und was nicht wirklich ist,
Kann nie in Wahrheit sein
So wie ein Mensch die abgetrag’nen Kleider
Am Abend ablegt und ein neu’ Gewand
Am Morgen wählt, so legt des Menschen Geist
Des Fleisches morsch geword’ne Hülle ab,
Und erbt aufs neu’ ein and’res Haus von Fleisch.
Durch Waffen wird das Wesen nicht verletzt,
Durch Feuer nicht verbrannt, durch Wasser nicht
Ertränkt; es trocknet durch den Wind nicht ein.
Das, was geboren wird, muss schliesslich sterben,
Des Sterbens Ende ist die Neugeburt.
Im ew’gen Sein
Ist jedes Ding unoffenbar enthalten.
Dann kommt’s zum Vorschein, und am Ende
kehrt’s
Dorthin zurück, woher’s gekommen war.«

Wie wir sehen, ist da von keiner
Wiederverkörperung des vergänglichen,
persönlichen Menschen die Rede, sondern
von einer Wiederoffenbarung seiner geistigen
Individualität in einer neuen persönlichen
Erscheinung, deren Charakter zum grossen
Theile von den Neigungen und Talenten,
welche sich dieser Geist in einem früheren
Leben angeeignet hat, abhängig ist. Es
ist hier nicht der Ort, tiefer in die Lehre
von der Wiederverkörperung einzugehen;
doch mag in Kürze angedeutet werden,
dass dieselbe auch im christlichen Glaubens-
bekenntnisse enthalten ist; denn wenn es
dort heisst: »Ich glaube an eine Wieder-
auferstehung des Fleisches«, so ist damit
dasselbe gesagt, als wenn der Buddhist sagt:
»Ich glaube an ein Wiederzusammentreten
der Skandas«, d. h. derjenigen psychi-
schen Elemente, Neigungen, Talente u. s. w.,
welche ich jetzt besitze und welche der
Persönlichkeit angehören werden, welche
mein Geist im nächsten Leben aufbauen
und überschatten wird, und die, weil sie
vergänglich sind, symbolisch als »das
Fleisch«, im Gegensatze zum Geiste, be-
zeichnet werden.

Alles dies ist jedoch für jeden, der sich
nicht selbst in seinem Innersten erkennt,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 352, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0352.html)