|
nichts als Theorie. In Wahrheit weiss
niemand etwas anderes mit Bestimmtheit,
als dasjenige, was er selber erlebt, erfahren
und erkannt hat. Der Weg zu dieser gött-
lichen Selbsterkenntnis wird »Yoga« ge-
gannt, und besteht nicht in der Theorie
oder dem Wissen allein, sondern in der
damit verbundenen Ausübung. »Yoga«
kommt von Yog
verbinden, und be-
deutet die Verbindung der menschlichen
Seele mit Gott. Es würde somit dem
Worte »Religion« entsprechen, wenn dieses
Wort nicht, wie so viele andere ähnliche
Worte, so oft missbraucht und mit »Kirchen-
thum« verwechselt worden wäre, dass es
beinahe seine wahre Bedeutung verloren
hat. Yoga ist die Kunst, durch den in uns
zum Bewusstsein erwachten göttlichen
Geist sich selbst zu beherrschen, und zwar
nicht nur die Ausbrüche unserer Leiden-
schaften zu hindern, sondern Herr über
alle unsere Gemüthsbewegungen und Ge-
danken und schliesslich sogar über die
Functionen des Körpers zu werden. Jede
praktische Ausübung der Religion, wenn
sie selbstlos und ohne Hintergedanken
erfolgt, ist eine Yoga-Übung. Sie verlangt
ein völliges Aufgeben des Egoismus und
des Eigendünkels. Sie wird in allen Re-
ligionssystemen gelehrt. Das Buch von
Thomas von Kempen »Die Nachfolge
Christi« ist gleich der Bhagavad Gita
eine Yoga-Lehre, und es wäre nicht schwer,
beinahe jede Stelle in derselben mit einer
correspondierenden Stelle aus der Bhagavad
Gita zu bekräftigen.
»Da wird kein Ziel verfehlt und keine Hoffnung
Bleibt unerfüllt. Nichts geht verloren. Selbst
Ein kleiner Glaube hilft vor grosser Furcht.
Da ist nur ein Gesetz, doch vielerlei
Sind die Gesetze derer, die nicht selbst
Beständig sind; schwer sind sie zu befolgen.
Der Thoren Rede klingt gar salbungsvoll,
Wenn sie der Veden weise Sprüche preisen.
Buchstaben kennen sie, doch nicht den Geist,
Und glauben, dass der leere Schall genüge.«
Die Entsagung von dem Wahne der
Eigenheit oder vielmehr das Hinauswachsen
über den Selbstwahn ist die Grundlage der
Yoga-Lehre. Man soll in geistlichen Dingen
nichts thun, um dadurch irgend einen
persönlichen Vortheil, weder im Himmel
noch auf der Erde, zu erlangen, denn die
Entwicklung der Individualität ist durch
das Hinausreichen über die Persönlichkeit
|
bedingt. Wer in die Freiheit eingehen
will, muss die Beschränktheit aufgeben.
Wer nur für sich selbst, d. h. für seine
Persönlichkeit sorgt, der sorgt für ein
Nichts; wem das Wohl des Ganzen, ohne
Rücksicht auf sich selbst, am Herzen liegt,
in dem kann die All-Liebe, All-Erkenntnis
und Allmacht offenbar werden. Dies ist
gemeint, wenn gesagt wird, man solle
nichts aus eigener Begierde, sondern alles
im Namen, d. h. in der Kraft Gottes voll-
bringen, wobei es allerdings vor allem
nöthig ist, dass die göttliche Kraft ins
Bewusstsein des inneren Menschen gelangt.
Wir sollen alles auf Gott, als das letzte
Ziel, beziehen, und je mehr wir den per-
sönlichen Willen dem göttlichen Willen,
der das Gesetz ist, unterwerfen, umso-
mehr kann der Wille Gottes in uns offen-
bar werden.
Wir könnten die Persönlichkeit des
Menschen mit einem Gefässe vergleichen
und die Individualität mit einem Lichte,
das darin scheint. Je mehr sich das Ge-
fäss erweitert oder je klarer es wird, um-
somehr wird es erleuchtet, umsomehr
dringen seine Strahlen in die Unendlich-
keit, aber je selbstsüchtiger ein Mensch
ist, umsomehr verschrumpft seine wahre
Individualität. Die Entwicklung, Befesti-
gung und Vervollkommnung der Indivi-
dualität aber ist das Ziel des menschlichen
Daseins und kann nur durch die Über-
windung der Begierde nach Erfüllung von
Sonderinteressen erlangt werden. Es han-
delt sich dabei nicht um ein Aufgeben
der Individualität und ein Versinken im
Nichts, sondern um die Überwindung der
persönlichen Neigungen und um das Er-
wachen zum Bewusstsein des unpersön-
lichen Daseins in Gott. Wenige werden
dies begreifen.
»Der Weise sucht
Nicht nach Verdienst und Lohn für seine Werke,
Erhaben ist er über alles »Selbst«.
So dringt er langsam nach und nach empor
Zur Freiheit aus des Körperlebens Banden,
Zum Sitz der Seligkeit.«
Ardschuna, wie viele andere, kann
diese Lehre nicht begreifen, er meint,
dass, wenn er nichts »selbst« thue, so
würde seine Pflicht nicht erfüllt werden.
Er weiss nicht, ob es besser ist, nur dem
Wissen sich hinzugeben oder zu handeln.
|