Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 354

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 354

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

Da erklärt ihm nun Krischna, dass das
wahre Wissen nur durch das Werden und
dies nur durch die That erlangt werden
kann, welche nur dann vollkommen sein
kann, wenn sie der Erkenntnis der Wahr-
heit entspringt; mit anderen Worten: dass
Theorie und Praxis sich gegenseitig er-
gänzen, dass aber nur dasjenige wirklich
gut ist, was in der im Menschen wirken-
den Kraft des Guten seinen Ursprung hat,
nicht aber dem Eigendünkel des Menschen
entspringt. Wenn der Mensch seiner
Selbstheit entsagt und sich ins Göttliche
ergibt, so handelt er nicht mehr in seiner
Eigenheit, sondern Gott ist die Ursache
aller guten Handlungen, die durch den
Menschen geschehen. Dies ist die alte
Lehre, wegen welcher auch Michael de
Molinos eingekerkert und viele Heilige
verfolgt wurden, und die auch heute noch
von Quietisten und anderen, die im Nichts-
thun selbstsüchtig nach Erlösung suchen,
missverstanden wird; denn es handelt sich
dabei nicht um Träumerei und Schwärmerei,
noch um Wissbegierde und Speculation,
sondern um das Erwachen des wahren
geistig-göttlichen Selbstbewusstseins, ohne
welches keine wahre Anschauung, kein
Eingehen in das Allerheiligste der Seele
möglich ist. Wer es nicht fühlt, wird es
auch nicht begreifen.

»Zwei Wege sind es, sag’ ich Dir, o Prinz!
Die sich Dir öffnen; zwei der Weisheitspfade.
Der eine führt durch Werke Dich zum Ziel,
Die die Vernunft Dich lehrt; der andre Weg,
Der Pfad des Glaubens, ist der Geistesweg,
Der durch die Andacht Dich zum Höchsten leitet.
Doch sind die Beiden Eins.«

Alles dies wird in den zunächst
folgenden Capiteln der Bhagavad Gita
erklärt. Krischna lehrt die Begierden-
losigkeit und Reinheit der Seele als die
höchste Tugend; wie es ja auch in der
Bibel heisst: »Selig sind diejenigen, die
reinen Herzens sind, denn sie werden
Gott schauen,« und welche höhere Er-
kenntnis könnte ein Mensch erstreben,
als dass er Gott, die Quelle alles Da-
seins, in welcher alles enthalten ist,
erkennt? Wo Herzensreinheit ist, da ist
auch die Erleuchtung nicht ferne. Des-
halb sagt Gautama Buddha: »Alles Böse-
thun ablegen und das Herz reinigen;
dies ist die ganze Religion der Erleuch-
teten.« Um aber dies zu vollbringen,

dazu ist es nöthig, dass man einen rich-
tigen Begriff von dem eigentlichen Wesen
des Menschen und den Principien, aus
welchen er zusammengesetzt ist, und
von der Stellung, die er in der Natur
einnimmt, bekommt. In diesen Erklä-
rungen besteht der wissenschaftliche Theil
der Bhagavad Gita, und diese Lehren
sind weder ausgeklügelt, noch der Specu-
lation entsprungen, noch wurden sie durch
Mittheilungen von Göttern oder Geistern
erhalten, sondern sie giengen aus der
eigenen Erfahrung der ältesten und
grössten Weltweisen und Philosophen
hervor. Was ein Mensch nicht aus sich
selbst weiss, ist für ihn nichts weiter
als Theorie, und die Theorie ist nicht,
wie viele meinen, das Ziel, sondern nur
das Mittel zum Ziel, welches das Werden
ist. Was man »auswendig« lernt, ist nur
äusserlich, aus dem »inwendigen« Lernen
entspringt die wahre Erkenntnis.

Die erste Lehre, welcher wir in der
Bhagavad Gita begegnen, ist, dass alles
im Grunde genommen nur Eines ist,
wenngleich es sich in unzählbaren ver-
schiedenen Erscheinungen offenbart. Ob
wir nun dieses Eine als »Parabrahm«
oder »Gott«, als »das Absolute«, »die
Wirklichkeit«, All-Liebe«, »Allmacht«, »All-
bewusstsein« oder sonst mit irgend einem
Namen bezeichnen, thut nichts zur Sache.
Namen sind nur Bezeichnungen für die
besonderen Anschauungsformen, unter
denen uns das ewig Eine erscheint. Weder
Stoff, noch Kraft, noch Bewusstsein sind
voneinander trennbar; keines existiert für
sich selbst. Sie sind nur Bezeichnungen
für verschiedene Offenbarungen des Einen,
das der menschliche Intellect nicht fassen
kann und für welches er keinen zu-
reichenden Namen hat, welches aber der
Indier OM (Amen) nennt. Er ist das
Wesen von allem und folglich auch von
uns selbst; und die Vereinigung mit Gott
und die Gotteserkenntnis (Theosophie)
besteht darin, dass im Menschen das Be-
wusstsein des ewig Einen erwacht, wo-
durch der Mensch selbst zur Erkenntnis
seines ihm innewohnenden wahren Wesens
gelangt. Dann hat er keinen äusserlichen
Erlöser mehr nöthig.

Gott hat nicht nur einmal die Welt
geschaffen und dann geruht; er schafft

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 354, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0354.html)