Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 355

Die Bhagavad Gita der Indier (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 355

Text

HARTMANN: DIE BHAGAVAD GITA DER INDIER.

sie immer noch. Auch schafft er sie nicht
selbst; denn sein innerstes Wesen ist
Ruhe; wohl aber schafft seine Kraft (das
ewige Wort) unermüdlich fort, und zwar
durch die schöpferischen Gewalten in der
Natur, die Elohim der Bibel.

»Nichts bindet mich; nichts hab’ ich zu erreichen,
Und dennoch wirk’ ich ohne Unterlass;
Denn würde ich nicht unablässig wirken,
So wären die, die meiner Führung folgen,
Des Lichtes auf dem Weg zum Heil beraubt.
Verliess’ ich sie, so wär’ es ihr Verderben.
Verfiel’ ich auch nur einen Augenblick
Sündhaft dem Schlaf, so würden diese Welten
Zugrunde geh’n.«

So soll auch der Weise in Gott und
mit Gott wirken, ohne in seiner Eigenheit
dabei etwas erreichen oder einen Vortheil
daraus ziehen zu wollen:

»So wie mit vielem Fleiss der Thor sich müht,
Der nach Erfüllung seiner Wünsche strebt,
So soll mit Eifer der Erleuchtete
Sein Werk vollbringen, frei vom Wahn des
Selbst,
Das Wohl des Ganzen nur im Herzen tragend.«

Gott in seinem eigenen Wesen (an
sich selbst) ist die ewige Ruhe, Selbst-
erkenntnis und Seligkeit (Sat-chit-anan-
dam
); die Natur ist die Offenbarung seiner
Allmacht. Er ist somit auch das innerste
Wesen der Natur, und die Natur ist nur
deshalb nicht göttlich und vollkommen,
weil in ihr die Nichterkenntnis und Leiden-
schaft herrschen, die sich dem Willen
Gottes widersetzen; geradeso wie ein
Mensch auch erst dann als ein göttliches
Wesen erscheint, wenn seine göttliche
Natur seine Thiernatur überwunden hat
und in dieser offenbar geworden ist.

Gott an sich selbst ist nicht für unsere
Sinne offenbar; dennoch kann in allen
offenbaren Dingen das Nichtoffenbare
geistig erkannt werden. Er ist das Leben
und Licht und Bewusstsein in allen Dingen
und dasjenige, was allen Dingen ihre
Vollkommenheiten verleiht. Nimmt man
von einem Dinge alles hinweg, was nicht
Gott ist, so bleibt nur mehr Gott übrig.
Es gibt folglich zweierlei Weltanschau-
ungen; die sogenannte »materialistische«,
welche glaubt, dass das Leben der Dinge
ein Product der todten Materie sei, und
die religiöse, welche in allem, was lebt,
das Leben als eine, wenn auch indirecte
Wirkung oder Abspiegelung des Geistes

Gottes im Weltall betrachtet. Welche von
den beiden die richtige ist, darüber mag
jeder seine eigene Vernunft zu Rathe
ziehen; was aber Gott im Herzen der
Erleuchteten spricht, ist in der Bhagavad
Gita niedergeschrieben. Er sagt:

»Brahma bin ich! Ich, der Alleinige
Und Unvergängliche. In meinem Selbst
Bin Adhyâtman ich, der höchste Geist,
Der Seelen Seele. Was aus mir entspringt,
Nennt man das Karma; aber wenn ich mich
In den verschied’nen Wesen offenbare,
Nennt man mich Adhibhûta, Herr der Welt;
Und Adhidaiva bin ich, wenn man mich
In meiner Eigenschaft als der Erzeuger
Von allem sieht; doch Adhidschaina, Herr
Des Opfers, bin ich hier in diesem Körper,
In dem ich mit Dir spreche, Heiliger!
Denn alle Herzen schlagen mir entgegen,
Und wer vom Leben scheidet und dabei
An mich allein nur denkt, der geht, nachdem
Er von des Fleisches Banden frei geworden,
In meines höchsten Wesens Dasein ein.
Ich bin der Geist, der in der Seelen Tiefe,
In jedem Wesen, unergründlich, wohnt,
Der Dinge Anfang, Mitte und ihr Ende,
Ihr Ursprung, Dasein und ihr Untergang.
Ich bin das Wirkende im Reich der Kräfte,
Der Sonnenglanz im Himmelssonnenchor;
Der Sturmgott, wenn im Raum die Winde
brausen,
Der helle Mond im mächt’gen Sternenheer;
Der Baum des Lebens unter allen Bäumen,
Und unter den Erleuchteten das Licht;
Der Glanz in allen Dingen, welche glänzen,
Die Güte in den guten Menschenherzen,
In jedem Ding der Ursprung alles Seins;
Denn ich bin alles, ohne mich ist nichts.

Obgleich nun allerdings im Grunde
genommen alles Gott ist, so müssen wir
doch zwischen Gott und Natur, d. h.
zwischen dem Geiste und dessen Offen-
barung, oder mit anderen Worten, zwischen
Wesen und Erscheinung einen Unterschied
machen; denn die Welt an sich (ohne
Gott betrachtet) ist nur Maya, d. h. Vor-
stellung oder Illusion. Das Wesen bleibt
ewig dasselbe und ist unveränderlich; die
Erscheinung kommt und geht; die Welt
der Erscheinungen ist gleichsam ein Traum
des Schöpfers, und so wie der Mensch
seine Perioden von Wachen und Ruhe
hat, so hat auch der Weltgeist seine
Perioden der innerlichen Ruhe und äusser-
lichen Thätigkeit, seine Schöpfungsperioden
(Manvantaras) und »Nächte« (Pra-
laýas
), und an jedem Schöpfungsmorgen
tritt die Erscheinungswelt aus dem Nicht-
offenbaren hervor, um beim Weltunter-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 355, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0355.html)