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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 362

Text

INS INNERSTE DER KUNST.
Von HELENE ZILLMANN (Berlin).

Ihr sprecht uns so viel von der
Phantasie, Ihr, die Ihr nicht wisst, was
Wirklichkeit und was Illusion ist, so viel
von der Kunst, Ihr, die Ihr dem ur-
eigensten Wesen der Kunst eben so
ferne steht, als Eurem eignen Ich.

Ihr alle, die Ihr Euch Künstler, Euch
Dichter nennt, ehe Ihr mir sagt, was
Eure Kunst ist, sagt mir, was Euer Gott
ist. Es gibt keine Kunst ohne Gottes-
erkenntnis.

Macht nicht viel Worte, denn das
Sein ist wortlos und spricht dennoch.
Trennt mir die Kunst nicht von dem
Ewigen, denn sie ist ewig. Sie war von
Anfang da und hat doch keinen Anfang.
Die Kunst wurde mit der Schönheit ge-
boren, die Schönheit ist seit dem Beginn
des Seins. Hat das All-Sein einen Anfang?

Wollt Ihr mir von einem ersten
Dichter, von einem ersten Maler sprechen?
Sagt, welches Wesen stammelte die ersten
Laute? War das Rieseln des Wassers
nicht immer Laut und Rhythmus? Waldes-
rauschen und Sturmesbrausen nicht immer
mächtige klangvolle Accorde? Welch’
reineres Blau als Himmelsbläue, welch’
tieferes Grün als des Laubes warme,
satte Farben schuft Ihr, Ihr Künstler? In
Feuer und Glut getaucht war das All, als
Sonnen emporstiegen und Welten um
sich her erleuchteten. Wer von Euch sagt
mir, dass er von solchem Licht und
Leuchten auch nur träumte?

Euer »Ich« wohl, das ewige, sang
mit der Musik der Sphären, Euer geistiges
Auge, das durch niedere, stumpfsinnige
Existenzen wohl getrübt werden, aber
niemals erblinden kann, es erschaute die
Schönheit, und der Wille erschuf. Götter
wäret Ihr und Göttern gleich müsst Ihr
werden, wenn Ihr es wagen wollt, Euch
der Natur, der Meisterin der Kunst, zu
nähern. Keine Kunst ohne Erkenntnis.
Taucht unter in Euer Innerstes, haltet
Zwiesprache mit Eurer Seele, lauscht Dem,
was sie Euch kündet, von wannen sie
kommt und wohin sie zurückkehren wird.
Erkennt, dass sie, die Euer eigenstes Ich
ist, eins ist mit dem Grössten, dem Er-
habensten, mit Gott. Erst, wenn Ihr diese

unumstössliche Wahrheit nicht gehört,
nein, mit jeder Schwingung Eures Seins
empfunden habt, dann erst seid Ihr
bereit, der Kunst zu dienen, der Kunst
zu gebieten, Ihr Gottgleichen!

Lebt lauter und rein in Eurer Seele,
bringt Euer ganzes Wesen in Einklang
mit dem All. Seid Gefässe, die das Form-
und Wesenlose umschliessen, denn nur,
was Euer Inhalt ist, kann aus Euch
fliessen, können wir aus Euch schöpfen.
Seid wohlgestimmte Saiten, auf denen uns
der Seele, der Gottheit Spiel erklingt.
Seid harmlos und demüthig, wie die
Kinder, denn Die nur, die »reinen Her-
zens sind«, werden Gott schauen. Schlicht
und hingebend naht Euch dem grossen
Mysterium, lasst es in Euch eintreten —
Ihr selbst seid das Mysterium. Freudigen
Gehorsams folgt dem einen unumstöss-
lichen Gesetze, denn Ihr selbst seid Ge-
setz. Ihr selbst seid Wille, aber nur, wenn
Ihr ohne Wollen seid, das Sein in Euch
ein- und ausströmen lasst wie eine be-
ständige, rhythmische Bewegung, nur dann
könnt Ihr dienen und herrschen zugleich.
Hinter den schön bewegten Linien
der Berge, den stolz und bewusst empor-
ragenden Zweigen des Baumes, dem
sanften Neigen zarter Blüten, hinter dem
süss verheissenden Gesang lieblicher Vögel,
in jedes Menschen Auge, in allem, was
lebt und athmet, werdet Ihr das eine
›Sein«, werdet Ihr »Gott« schauen und
empfinden.

Lasset den göttlichen Athem in Euch
einströmen, Euer geistiges Auge das All
umfassen. Verschliesst Euer Ohr dem
einen Klang nicht, der durch Alles tönt.
Fasst das Formlose in Form. Bekleidet
Das, was an sich farblos ist, mit den
leuchtendsten Farben, denn es ist das
Leuchtende! Verkündet uns in Euren
Liedern das Tonlose, das Ihr erlauscht in
dem einen wundersamen Liede der Natur.
Stimmt eine Weise an, sprecht eine
Sprache, die mächtig und erhaben, schlicht
und einfach ist, wie das Tönen alles
Seins. Erkennet Gott — und wir wollen
Euch als wahre Künstler preisen, denn
nur in dieser Erkenntnis liegt die Kunst! —


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 362, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0362.html)