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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 364

Text

RAFAEL: DAS WEISSE BUCH.

LammDie Stunden geh’n in
Eile
Wir kommen niemals an,
niemalsniemals an.

Und Mary nimmt ihre Geige — ich
fürchte mich so vor dem Piano — und
spielt leise ein paar Melodien — und
alle sind so schön und klingen beinahe
wie die, die ich nicht kenne — und ich
höre, wie die weissen Blätter in meinem
Buche leise, leise mitsingen.

»Du musst Dein Buch neben Dir
haben, um darin zu schreiben,« sagte
Mary.

Aber da wurde mir bange. »Liebe
Schwester,« sagte ich, ›wird nicht das
weisse Buch verdorben, wenn ich darin
schreibe?« ›Nein,« sagte sie, »dann
bleibt es doch so weiss wie eines Kindes
Seele.«

O — ich wurde so froh und stand
auf und tanzte.

Und wir schwiegen. Mary ist sehr
weise.

Und es sang fein, fein in den weissen
Blättern — tief drinnen — ich legte
mich auf die Knie und drückte das Ohr
dicht daran und lauschte —

Ach, mein Buch!

Meine Feder hält ein für heute — —

Jetzt wo niemand da ist und ich ganz
allein bin mit dem grossen Geist, will ich
davon sprechen — von Beatrice soll darin
stehen — sie soll die weissen Blätter
füllen zwischen Gold und Grün. Sie ist
weisser als eines Kindes Seele.

Es ist so wunderlich ich kann
lachen, dass die Thränen rinnen. Die
Menschen, die immer dumm sind, weil
sie nicht verstehen, was der grosse Geist
sagt — die behaupten, dass sie Helena
heisst. Ich lache.

Es war einmal ein Buch — es ist
sehr — sehr lange her — tausend Jahre
— darum weiss ich nicht mehr, wie es
hiess. Aber Beatrice stand auf jedem
Blatt. Die Leute sagten, die Buchstaben
wären schwarz — aber ich sah, dass sie
in Gold und Grün waren. Ich las es
viele — viele Male.

»Mary«, sagte ich gestern, »Du weisst
auch nicht, dass sie Beatrice heisst.« Sie
sah mich an eine Weile und sagte:

»Nein, Johannes, ich weiss auch nicht,
dass sie Beatrice heisst«. »Mary«, sagte
ich, »Dich liebe ich mehr als die andern.
Darum sollst Du wissen, dass Helena
Beatrice heisst. Aber Du darfst es nicht
weiter sagen. Nur Du und ich sollen es
wissen.«

Es war ein Herbsttag, als sie hierher
kam mit meiner Schwester — als graue
Kupferwolken über einen dunkelblauen
Himmel flogen und hoch oben blassrothe
Flügel flatterten — die Luft war mild
und kühl. Sie setzte sich an unser Feuer
— und da wurde das Zimmer heilig.
Sie lächelte — und das Zimmer ward
hell. Sie sprach — und das Zimmer
wurde erfüllt mit Musik. Als sie aufstand
und gieng, ward das Zimmer leer und kalt.
Ich fragte Mary, von wo sie käme.
Mary antwortete — und ich vergass es
— und ich fragte und sie antwortete —
und ich vergass es wieder — denn es
war nicht wahr — und ich wurde be-
trübt. Da flüsterte der grosse Geist, dass
Beatrice von einem Lande käme, wo die
Seelen aller Menschen wie weisse Flammen
sind — es liegt weit — weit fort —
niemand weiss, wo. Ich sagte das Mary
und fragte betrübt, warum sie falsch ge-
sprochen hätte. Sie sah mich lange an
und sagte: »Ich sprach nicht falsch,
Johannes. Helena ist von dort, woher
ich sagte. Aber Beatrice, die tief drinnen
in Helena wohnt, kommt von dort, wo-
her Du sagtest.«

Beatrice, Beatrice!

Die Feder hält ein nun — — —

Es ist wieder ein Tag, und das
Buch lockt mich, zu sprechen. Die Alte
ist stark und hübsch — ihr weisses Haar
ist aufgesteckt im Nacken und fällt herab
an den Seiten, ihre Kleidung ist Perlen
und schwarze Seide — und rauscht. Sie
ist gross und schmal und steif. Mir ist
bange vor ihr, sehr bange, ich tanze nicht,
wenn sie im Zimmer ist. Sie liebt das dicke
Buch mit rothem Schnitt, sie deutet dar-
auf mit einem langen Marmorfinger und
sagt: »In diesem Buche sollst Du lesen,
Johannes, denn in ihm wohnt Gott!«
Und sie sieht auf das weisse — das ich
wie einen Schild gegen mein Herz drücke

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 364, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0364.html)