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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 365

Text

RAFAEL: DAS WEISSE BUCH.

— das weisse, in dem der grosse Geist
wohnt, und sie sagt: »In dem wohnt
nicht Gott.« Ihre Blicke sind über mir
mit schwerer Macht.

Ich öffnete furchtsam das schwarze
Buch mit rothem Schnitt und suchte Gott
unter den schwarzen Buchstaben. Er sah
finster und drohend auf mich, und ich
verstand nichts — aber ich las und zitterte.
Sowie die Alte mich verliess, schloss ich
die Augen — wandte aber die Blätter
mit vielem Geräusch um und war bald
dem Schlusse nahe. Ich hörte die Alte
wieder kommen und öffnete die Augen
— da sagte sie zwingend: »Lies laut,
Johannes.« Da las ich mit Beben: Und
ich war im Geist an einem Sonntag
und hörte hinter mir eine grosse
Stimme
, wie die einer Posaune. Ich
entsetzte mich und wollte nicht mehr
lesen, aber ihr Blick stand brennend über
mir, und ich wandte das Blatt und las:
Und der erste Engel posaunete, und
es ward ein Hagel und Feuer mit Blut
gemenget
, und es fiel auf die Erde,
und der dritte Theil der Bäume
ward verbrannt
, und alles Grüne
verbrannte
. — Meine Zunge wurde ge-
lähmt vor Schreck, und ich hielt ein. Da
setzte sich die Alte an das Instrument und
schlug hart an und rief laut: »Halleluja!«

Ich aber schrie auf und floh weit fort
und warf mich auf den Boden, das weisse
Buch unter mir, — denn ich fürchtete,
dass das Gold und Grün der Blätter
niedergeschlagen und verzehrt werden
würde. Da kam Mary und hob mich auf,
führte mich nach dem Herd, schloss viele
Thüren und spielte Violine, so dass meine
Seele Ruhe fand und Trost. »Meine
Schwester«, sagte ich, »warum fürchte
ich mich vor dem Gott des schwarzen
Buches??«

Mary schwieg eine Weile und sagte
dann: — »Der grosse Geist des weissen
Buches ist mein und Dein Gott, Johannes.
Er spricht mild zu uns «

Und ich weinte vor Freude.

»Mary«, sagte ich, »warum sagen die
Menschen, die Alte wäre meine Mutter??«

Mary schwieg eine Weile und sagte
dann: — »Die Menschen wissen nicht,
dass die Alte nicht die Mutter Deiner
Seele ist.«

»Meine Schwester«, sagte ich, »die
Jungen des Wolfes haben eine Mutter,
der Vogel im Neste hat eine Mutter, die
Wolken des Himmels haben eine Mutter,
— warum habe ich keine Mutter???«

»Johannes«, sagte Mary, »da Du
mutterlos zur Welt kamst, gab der grosse
Geist Dir mich, auf dass ich die Mutter
Deiner Seele wäre, mit Dir spräche und
Dich zur Ruhe spiele.«

Und ich weinte vor Freude.

Da kam Beatrice — — — — — —


Sie stand mitten im Zimmer, und von
ihren Lippen verbreitete sich ein Lächeln
gleich lichten Wellen, die mich in Seligkeit
einhüllten. Ich gieng heran, fiel nieder
vor ihr, hob ihren Kleidersaum an meine
Lippen und sagte mit Beben: »O himm-
lische Königin!« Da zog sie sich zurück,
so dass der Kleidersaum aus meinen
Händen glitt, und ich wurde mit der
tiefsten Betrübnis erfüllt. Aber Mary stand
an meiner Seite und sagte leise: »Er hat
die Seele eines Kindes in dem Herzen
eines guten Mannes.« Und Beatrice näherte
sich mir, berührte meine Stirn und mein Haar
und sprach mit säuselnder Stimme: »Steh
auf, Johannes, Du bist nicht nur Marys
Bruder, sondern auch meiner. Komm und
sitze mit uns am Feuer.«

Und wir sassen dort alle — Mary
spielte Violine, und draussen stürmte der
Schnee in weissgrauen Wolken — —
Aber Beatrice war eine Sonne an unserm
Herd. Ich sass erfüllt mit den Worten:
Du bist nicht nur Marys Bruder — sondern
auch meiner. Und ich schlich an Marys
Seite und flüsterte: »Sag mir, Mary,
warum bin ich glücklich und traurig zu-
gleich darüber, Beatrices Bruder zu sein??«
Und Mary antwortete, während sie noch
leise spielte: »— Johannes, Beatrice hat
keinen andern Bruder als Dich — Du
bist ihr einziger, lieber Bruder «

Ich wurde von der tiefsten Freude er-
füllt, während meine Seele sich nach
Beatrice sehnte, obwohl sie an meiner
Seite sass. Aber ich fürchtete diese Sehn-
sucht und verbarg meinen Blick, der
Beatrice umarmte — und ich murmelte
leise wieder und wieder, bis meine Seele
hell wurde: Du bist Beatrices einziger,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 365, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0365.html)