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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 367

Text

RAFAEL: DAS WEISSE BUCH.

Wasserfälle — und wie er eingeschlafen
mit dem Kopf an meiner Schulter,
während seine hellen Locken über uns
beide flossen.

Und während sie sprach, liebte ich
Gregorius.

»O — mein Bruder!!«

Hier hält meine Feder ein — — —

Gregorius sprach mit klingender
Stimme und glaubte mich weit fort, aber
ich hörte ihn, und die Alte lauschte seiner
Rede — und er sagte: »Johannes muss
fort.« Die Alte antwortete: »Das ist
theuer, Gregorius« — und sie rechneten.

Da wurde ich heftig betrübt — denn
meine Augen trinken Beatrices Anblick.
Die Menschen sind so böse, dass man
vor ihnen lügen muss — und ich schlich
still wie ein Schatten und lauschte auf
meines Bruders Worte, ohne zornig zu
werden — und die Alte sagte: »Gre-
gorius, er ist still, noch können wir
warten.« Und meine Blicke giengen in
Beatrices Spur.

Sie sitzt nicht mehr an unserm Herd
— Gregorius hat ihr einen Platz bereitet
auf einem goldenen Stuhl und ein buntes
Kissen unter ihre Füsse gelegt. Von
Marys dämmerdunklem Zimmer aus kann
ich sie sitzen sehen wie eine junge
Königstochter unter den Blättern der
weitarmigen Palme. Aber je mehr ich
sie ansehe, desto betrübter werde ich —
denn ein röthliches Licht mischt sich in
die weisse Flamme ihrer Seele und
wächst, wenn mein Bruder zu ihr spricht.

Mein Bruder lächelt und redet, und
die Alte legt die vielen Bücher mit
schwarzen Einbänden und Silberkreuzen
fort, schmückt die Zimmer zum Fest und
richtet sie her mit Blumen und Lichtern
— und Helena tanzt. Viele Tanzende sind
um sie, und mein Bruder führt sie rund
herum im Saal — und ich sehe Beatrice
traurig an ihrer Seite gehen, während
die Flamme ihrer Seele zusammen-
schrumpft. Sie bebt nicht, aber ich
sehe sie doch beben und folge ihr mit
dem Blick — aber ihre Augen fliehen mich.

Er wird sie in Ehren halten, doch sie
wird werden wie die Alte, steif und stark
— und die Musik ihrer Rede wird ver-
nichtend werden.

Mary ist in Weiss — wie wenn der
Schnee über die gelben Blätter des Herbstes
gefallen ist — und sie wirbelt still umher,
aber ihre Blicke sind in der Ferne und
ihr Herz ist mit mir.

Ich war heute allein mit ihm und ich
musste sprechen. »Gregorius«, sagte ich,
›warum tödtest Du Beatrices Seele??«
Er antwortete lächelnd: »Ich kenne keine
Beatrice, Brüderchen, wie könnte ich da
ihre Seele tödten??« »In Helena wohnt
Beatrice«, sagte ich, »und Du sollst sie
lassen, so dass Beatrice lebe.« »Lass uns
gleichmässig theilen, Brüderchen«, sagte
er; »wenn Helena mein wird, so hast
Du Beatrice noch, die Deine Träume
geschaffen haben. Ich lasse sie Dir gern —
da ich Helena nehme.« Ich gieng hinzu,
umfasste seinen Arm und sagte: »Ich
bin der Grosse und Starke von uns beiden
— ich kann Dich schaukeln auf meinen
Armen noch heute, obwohl Du ein Held
vor den Menschen bist — lass Helena
Er lächelte noch — aber seine Blicke
lagen über mir wie kalter Stahl.

»Lass uns Freunde sein, Brüderchen«,
sagte er und bebte unter meinem Griff.

Mein Bruder ist nicht muthig und
stark, aber mächtig vor den Menschen
— und die werden ihm helfen, mich fort-
zubringen. Ich setzte mich still nieder,
er aber sah mich lächelnd an — so wie
er seine gekoppelten Hunde ansieht.

Heute Nacht werde ich Beatrices
Seele retten
. Noch ist es erst Morgen
— ich denke, aber schreibe nicht mehr.

Es soll in dem weissen Buche stehen,
wie ich Beatrice rette. Aber es darf
nicht darin stehen, dass die blutroth
sinkende Sonne meine Freundin wurde
und dass ich mich blind starrte in
ihr, bis ich mich nicht mehr erinnerte,
wie ich Gregorius auf meinen Armen ge-
schaukelt habe, wie ich ihn durch den
Sturm getragen habe. Er trägt keine gelben
Locken mehr — die sind gefallen —
glatt ist sein Kopf.

Mein Bruder, warum wuchsest Du so
gross, dass Du ein Recht zu haben glaubtest
über Beatrices Seele?? Ich bin ihr ein-
ziger, lieber Bruder — wenn sie mich
auch nicht mehr sieht! Der böse Geist,
der in der dunkelrothen Abendsonne wohnt,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 15, S. 367, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-15_n0367.html)