Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 370

Das Jugendschiff (Hallström, Per)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 370

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HALLSTRÖM: DAS JUGENDSCHIFF.

»Ich bin Orpheus,« antwortete der
Mann, »aber ich bin nicht der Führer,
wie Du wohl sehen kannst. Er dort ist
es,« und er wies auf einen schlanken
Jüngling in der Schar, »das ist Jason,
König Aesons Sohn, von Jolkos zogen
wir aus auf eine weite Fahrt. Hier wollen
wir nur ruhen, und keiner bereute es noch,
uns Gastfreundschaft gewährt zu haben.«

Die anderen Männer versammelten sich
um sie, und Der, der Führer genannt
wurde, fragte nun seinerseits Lynkeus,
was es für ein Land wäre, auf dem sie
standen und wie der König da heisse.

»Bithynien heisst das Land,« ant-
wortete dieser, »unser König ist Phineus,
Agenors Sohn; wie die Gastfreundschaft
werden mag, die Ihr hier findet, weiss
ich nicht, denn der König ist krank und
hier ist es gar düster, doch feindlich sind
wir nicht.«

»So führe uns zu Deinem König,«
sagten sie, »wenn er nahe wohnt. Wir
sind hier unser der Könige und Königs-
söhne viele, er wird uns schon die ge-
bürende Ehre zu erweisen wissen.«

Lynkeus unterdrückte die bekümmerten
Worte, die ihm auf den Lippen waren,
sah mit gespanntem Interesse um sich
auf ihre schönen frohen Gesichter und
übernahm dann die Führung, mit Orpheus
an seiner Seite, denn er hatte seine Stimme
liebgewonnen. Wie sie so giengen, fragte
er, begierig den Worten lauschend, die
da fielen, welche von ihnen Könige wären,
und warum sie so weit auszogen, denn
den Namen Jolkos hatte er nie gehört.

Orpheus lachte klangvoll. »Warum wir
ausziehen,« antwortete er, »das ist eine
allzulange Geschichte, und die müssen wir
für Deinen Herrn aufsparen, aber gerne
will ich erzählen, wer wir sind. Jason
kennst Du schon, das ist ein munterer
Held, dem alles glückt, obwohl er nur
mit einem Schuh zu Poseidons Opfer kam;
neben ihm geht Meleager, dem die drei
Parzen gute Freundschaft schenkten. Die
Beiden hinter ihnen sind Kastor und
Polydeukes — fange keine Händel mit
ihnen an. Der hohe Mann dort, der so
elastisch schreitet, ist Theseus; wer weiss,
wovon er jetzt träumt, wenn auch sein
Blick so klar ist! Und da ist Perithoos
und Peleus und Amphion, der so spielt,

dass selbst die Espen stille stehen und
lauschen, besser spielt als ich, aber ich
singe auch. Die Zwei mit den geflügelten
Helmen sind Kalais und Zetes, sie werden
Boreas’ Söhne genannt, denn immer haben
sie guten Wind mit sich.« Und er fuhr
fort, Namen zu nennen, und für Lynkeus
wurde es zum Klange eines triumphieren-
den Gesanges, er fieng nur die fremden,
seltsam siegesstarken Laute auf.

Als Orpheus geendet, sagte er: »Erzähle
nun Du mir von Deinem König und den
Deinen, so weiss ich besser, wie ich ihn
anreden und ihn für uns gewinnen soll!«

Lynkeus seufzte: »Das wird eine ganz
andere Erzählung als die Deine,« erwiderte
er. »Unser König ist krank. Die Götter
haben ihn wohl für seine Überklugheit
gestraft. Er sah durch die Schicksale der
Menschen und wusste die Zukunft, auch
schwieg er nicht, sondern offenbarte, was
Jeglichem beschieden war, Völkern und
Männern, und es waren keine freudigen
Kunden, die er brachte. Da ballte sich
der Zorn der Götter über uns zusammen.
Hier wurde es still und dunkel, man sah
nur trübe, müde Gesichter, ein jeder dachte
bloss an das Seine, und wie es dem Unter-
gang geweiht war, alles wurde vor dem
tiefen Blick des Königs hohl, die Feste
brachen in Leere ab, an den Wänden
hiengen die Leiern stumm und ihre Saiten
sprangen. Aber dem König selbst gieng
es am schlimmsten. Er hatte zwei Söhne,
schöne, herrliche Knaben, sie wuchsen
in Stärke und Schönheit auf und ver-
sprachen viel. Aber er wusste, dass sie
einen frühen Tod erleiden mussten, und
er sagte es ihnen und steckte auch sie
an mit seiner Klugheit. Da brach etwas
in ihnen, sie verloren das Lachen und
die Lust zu allem, sie irren wie zu Schanden
geschossene Thiere umher und nichts scheint
ihnen wert, zu prüfen oder zu geniessen.
Der Alte selbst ist wie blind, denn er
wendet seinen Blick nicht länger etwas
zu, er sieht nur gleichsam nach innen
und durch und durch, er sitzt meistens
am Herde, aber will kein Feuer haben,
die Götter haben ihn hart gestraft.«

Orpheus’ Augen starrten während des
Mannes Worten dunkel, sie zogen sich
zusammen und weiteten sich, sein Mund
war fest geschlossen und das Haupt vor-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 370, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0370.html)