Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 371

Das Jugendschiff (Hallström, Per)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 371

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HALLSTRÖM: DAS JUGENDSCHIFF.

geneigt; plötzlich erhob er es hoch, in
einem stolzen, grossen Lächeln, es war,
als lauschte er einem Sange über sich
und er trat die Erde fest und rhythmisch.

»Da liegt das Königshaus,« sagte
Lynkeus und zeigte hinab — sie standen
auf einem Hügel — »es steigt kein Rauch
aus dem Herde auf, wie Du siehst.«

Orpheus sah ein weitgestrecktes graues
Gebäude, durch Mauern mit kleineren
Thürmen und Steinscheunen verbunden;
das Ganze stieg und sank nach den Linien
des Bodens, dunkle Pappeln standen in
Gruppen umher und dahinter lag das
Meer grau. »Was nicht ist, kann werden,«
sagte er, hierauf wandte er sich zu den
Kameraden und rief: »Des Königs Hof ist
gross genug, um uns für eine Nacht zu
beherbergen, Herden sehe ich, und an
Weinstöcken sind wird vorbeigekommen
— hier kann es gar fröhlich werden!«
Die Männer lachten lärmend zur Antwort;
»warum sollte es nicht,« sagten sie und
Tiphys, der Steuermann, sah prüfend auf
die langen, nach unten zu gezackten
Wolken des Horizontes und murmelte:
»Morgen weht ein guter Wind von hier
fort.« So zogen sie den Hügel hinab,
indes Hundegebell sich erhob und Krähen
über die Dächer flatterten.

Als sie herangekommen waren, gieng
Lynkeus mit der Botschaft zum Könige
hinein und war sogleich wieder zur
Stelle. »Phineus, Agenors Sohn, heisst
Euch willkommen,« rief er. »Während ich
Euch zum Bade führe, soll das Mahl be-
reitet werden« — und sie murmelten laut
vor Vergnügen und streckten ihre Glieder,
die bestäubt waren vom Salz des Meeres-
schaums. Als sie bereit waren, geleitete
Lynkeus sie in das grösste Gebäude, wo
zwei Reihen langer Tische beladen da-
standen und etwa hundert Männer sich
unter den Fackeln versammelt hatten und
neugierig prüfend die Waffen und die
Grösse der Fremdlinge betrachteten.

Ganz vorn auf einem Stuhle mit
löwenköpfigen Armlehnen sass der König,
ein grossgewachsener, noch nicht ergrauter
Mann und hob zerstreut den Blick. »Kommt
hier herauf zu mir, alle,« sagte er; »der
von Euch Jason heisst, soll hier neben
mir sitzen und Ihr anderen in der Ord-
nung, an die Ihr Euch gewöhnt.« Nach-

dem sie Platz genommen, gab er durch
einen Wink zu verstehen, es möge das
beste Stück auf der Schüssel vor ihm
Jason gereicht werden; die Diener theilten
dann von den Speisen aus, wie es ihnen
am besten dünkte, und gossen Wein in
die Trinkschalen. Die Gäste assen und
tranken schweigend und blickten in die
Fackelflammen, in einem Gefühle des
Wohlbehagens, alles fest und unbeweg-
lich um sich zu sehen, nach dem Schau-
keln langer Tage.

Nach einer Weile begann der König
zu sprechen und die Fremden richteten
nun ihre Blicke auf die seinen, die hurtig
aber müde über den Kreis fuhren.

»Wenn ich Euch ansehe, Fremdlinge,«
sagte er, »dünkt es mir wahrscheinlich,
dass wohl die meisten unter Euch An-
spruch erheben könnten, besonders aus-
gezeichnet zu werden, aber nun ist Jasons
Name der einzige, den ich aufgefangen,
und ich wusste, dass er Euer Führer ist
auf dieser Fahrt. Möge ein jeder, den ich
übergangen, es mir verzeihen, und Du,
Jason, erzähle mir, wer Ihr seid und wenn
Du willst, warum Ihr hieher gekommen;
so kann ich Dem noch gebürende Achtung
erweisen, der sie verdient. Verzeiht auch,
dass ich selbst wenig Antheil am Mahle
nehme, dies ist nichts Zufälliges, es ist
lange so gewesen — mir bietet nichts
Genuss.

Jason nannte die Namen der Gefährten
und erzählte von ihrer Geburt und ihren
Verhältnissen, und jedem sandte der König
einen Trunk Wein in verschiedenen kost-
baren Schalen mit der Bitte, sie möchten
sie als Andenken behalten; es freute sie,
zu sehen, wie richtig er den Rang eines
jeden abwog, und es erhob sich ein Ge-
murmel der Befriedigung rings an dem
Tische.

Als die Runde geschlossen war, sam-
melte Phineus die Aufmerksamkeit aller
in einen Blick, der dunkel, aber glimmend
an ihnen vorbeizog. »Das ist eine herr-
liche Gefolgschaft, die Du da hast, Jason,«
sagte er, »glänzender, als wohl je zuvor
ein Schiff getragen, Du denkst wohl etwas
Wunderbares durch Deine Fahrt zu ge-
winnen, grosse Reiche und Länder?«

Jason lachte. »O König,« antwortete
er, »warum müsste das so sein? Ist es

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 371, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0371.html)