Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 382

Religiöse Symbole (Böhme, Edwin)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 382

Text

BÖHME: RELIGIÖSE SYMBOLE.

Durch die Erkenntnis der allen Religions-
systemen gemeinsamen Methode der sym-
bolischen Lehrweise erschliesst er sich
die Schatzkammer der religiösen Schriften
aller Völker.

Im Evangelium Buddhas* heisst
es: Der Gebenedeite dachte bei sich selbst:
»Ich habe die Wahrheit gelehrt, welche
vortrefflich ist am Anfang, vortrefflich in
der Mitte und vortrefflich am Ende; sie
ist herrlich in ihrem Geiste und herrlich
in ihrem Buchstaben. Aber so einfach sie
ist, vermögen die Leute sie doch nicht
zu verstehen. Ich muss zu ihnen reden in
ihrer eigenen Sprache; ich muss meine
Gedanken ihren Gedanken anpassen. Die
Menschen sind Kindern gleich und hören
gerne Erzählungen. Ich will ihnen deshalb
Geschichten erzählen, um ihnen die Herr-
lichkeit des Dharma (der Lehre) zu er-
klären. Wenn sie die Wahrheit nicht zu
fassen vermögen in den abstracten Beweis-
führungen, durch welche ich sie erreicht
habe, so mögen sie dieselbe vielleicht
verstehen lernen, wenn sie durch Gleich-
nisse erläutert wird.«

Die Bhagavad Gita**, die »Bibel
der Indier«, von der Humboldt sagt, dass
er Gott danke, weil er ihn habe lange
genug leben lassen, um dieses Werk
kennen zu lernen, spricht von einer
Schlacht zwischen den Kurus (den niederen
Seelenkräften) und Pandavas (den höheren
Seelenkräften) um den Besitz des König-
reichs Hastinapura. Schon der Umstand,
dass Hastinapura das »Himmelreich« be-
deutet, weist darauf hin, dass man es hier
nicht mit einer Aufzählung historischer
Begebenheiten, sondern mit der dramati-
schen Darstellung von Vorgängen zu thun
bat, die im Innern eines jeden Menschen
stattfinden.

Da ertönten
Zahllose Muschelhörner, donnergleich
Erklang der Schall von Trommeln und Trom-
peten,
Wie wenn der Sturm von allen Seiten tost,
So brauste ringsumher der Schlachtenruf.
Da standen auch im gold’nen Schlachtenwagen,
Bespannt mit weissen Pferden, kampfbereit
Krischna, der Gott des Himmels, und Ardschuna;
Sie liessen ihre Muschelhörner tönen.

Krischna, welcher Ardschuna über die
wahre Natur des Menschen und seine
Stellung zu Gott belehrt, ist der dem
Menschen innewohnende göttliche Mensch
(Christus).

Das Licht der Erkenntnis, das die
erwachende Seele erleuchtet und als »Wort
Gottes« zu ihr spricht, wird im Zend-
Avesta
der »in Herrlichkeit ver-
schlungene« Ormuzd genannt. Von ihm
wird Zoroaster über den erhabenen
Weg des Lichtes belehrt.

Wer denkt da nicht zurück an das im
Alten Testamente so oft gelesene:
»Und Gott sprach« oder »Der Herr redete
mit Moses und sprach«? Und wen über-
kommt nicht ein Ahnen, dass sich die
Schilderung der Kämpfe der Kinder Israels
mit Amalekitern, Philistern und Baals-
dienern und ihres Zuges durch das »Rothe
Meer« und die »Wüste« nach dem »ge-
lobten Lande, wo Milch und Honig fliesst«
auf etwas Höheres beziehen könnte als
auf die Historie eines Volkes? — —

Zu welchen Thorheiten und Greueln
das Missverständnis religiöser Symbole
führen kann, dafür liefert die Kirchen-
geschichte alter und neuer Zeit eine ge-
nügende Anzahl von Beispielen. Zu den
am häufigsten angeführten gehört die
Witwenverbrennung in Indien, die auf
der äusserlichen Auslegung der Schrift-
stelle beruht:

Der »Mann« (das männliche Princip,
der Gedanke) und das »Weib« (das weib-
liche Princip, der Wille) sollen sich im
»Feuer« (der göttlichen Liebe) vereinigen,
um den Zustand höchster Glückseligkeit
(die geistige Erkenntnis) zu erlangen.

Auch die Azteken verstanden die
Stimme des Göttlichen nicht, als sie zu
ihnen sprach: »Opfert Mir (Eure) Herzen,«
d. h. macht Euer Gemüth dem göttlichen
Einflüsse zugänglich, sondern rissen ihren
Kriegsgefangenen die Herzen bei leben-
digem Leibe aus, um sie ihrem unver-
standenen Gotte als blutiges Opfer zu
bringen. — Wie viel Leid wäre erspart
worden, wenn die Anhänger des Islam
die göttliche Vorschrift: »Tödtet meine
Feinde (in Euch)« im wahren Sinne auf-

* Paul Carus: »Das Evangelium Buddhas«, Verlag Friedrich, Leipzig.

** Vergleiche den Aufsatz Franz Hartmanns in Nr. 15 der »Wiener Rundschau«.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 16, S. 382, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-16_n0382.html)