Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 400
»Blaubart und Ariane« (Maeterlinck, Maurice)
Text
ARIANE:
Ich sehe nichts.
DIE AMME:
Es ist nichts, ich hab’ es gleich gesagt. Komm schnell wieder fort, nur
schnell
ARIANE:
Wo sind wir? Halte doch die Lampe etwas höher
(Allmählich gewahrt man beim Lampenscheine hinter der aufgegangenen Thür eine
zweite Thür, die jener ähnlich sieht; zugleich vernimmt man einen gedämpften Ge-
sang wie von fernen und bebenden Stimmen.)
ARIANE:
Noch eine Thür Es wird gesungen Hörst Du nicht Es
wird gesungen
GESANG VON ERSTICKTEN STIMMEN:
Die fünf Mädchen von Orlamünde,
Als die Fee war todt,
Die fünf Mädchen von Orlamünde
Suchten nach der Thür in Noth.
ARIANE:
Sie sind drinnen Sie leben Ach, ich wusste es ja! Amme,
Amme, hilf mir leuchte mir Du hast keine Furcht mehr? Hörst
Du, sie leben! (Sie steckt den Schlüssel ins Schloss und bemüht sich vergeblich,
aufzuschliessen.) Ach, die geht nicht so leicht auf, wie die erste Wer
seid Ihr? Wo seid Ihr? Helft mir doch! Ich komme, Euch zu
befreien! Macht auf! Macht auf!
(Schweigen. Dann ein Geräusch wie von plötzlicher Flucht, Jammern, Gnaden-, Angst-
und Schreckensrufe. Ariane macht eine verzweifelte Anstrengung, und plötzlich
gibt die Thüre nach und verschwindet auf dieselbe Art, wie die vorige. Ein weiter
unterirdischer Saal mit schweren Gewölben, die auf zahlreichen Pfeilern ruhen, wird
sichtbar. Ein schwacher, unbestimmter Lichtschein erhellt seinen Hintergrund. Man
erkennt FÜNF FRAUENGESTALTEN, die bestürzt in den Schatten der letzten Wöl-
bung geflohen sind. Ariane und die Amme, welche die Lampe über ihrem Kopfe hält,
um zu leuchten, machen einen Schritt hinein und bleiben dann stehen. Ariane
horcht auf und sucht das Dunkel zu durchdringen.)
DIE AMME:
Vorsicht Was glitzert da so? Gewiss ein tiefes Wasser
ARIANE:
Wo seid Ihr?
(Furchtsames Seufzen ist die Antwort. Ariane erkennt allmählich die fünf Frauen,
die sie verstört anblicken, eilt ihnen mit offenen Armen entgegen, umfängt sie mit
unsicheren Händen, umarmt, küsst und liebkost sie tastend in zärtlicher, krampfhafter
Trunkenheit.)
ARIANE:
Ach, nun hab’ ich Euch gefunden! Sie sind voller Leben und Lieblichkeit!
Als die Mauer sich aufthat, wähnte ich Todte zu sehen, und ich küsste fünfmal
weinend holde Lippen Ihr habt wohl nicht gelitten? Eure Lippen sind
frisch und Eure Wangen sind zart wie bei Kindern Und hier — Eure
blossen Arme sind so weich und warm, und Eure vollen Brüste beben unter ihrem
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 400, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0400.html)