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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 401

Text

MAETERLINCK: BLAUBART UND ARLANE.

Schleier Aber Ihr zittert ja? Und so viele seid Ihr! Ich umfasse
Schultern und umschlinge Hüften; ich weiss nicht, was ich berühre; ich küsse
lauter blosse Brüste und Lippen Und diese Haare, die Euch umwogen
Ihr müsst schön sein! Meine Finger ertrinken in warmen Fluten, und meine
Arme verstricken sich in störrischen Flechten Habt Ihr tausendfaches
Haar? Ist es schwarz, ist es blond? Ich sehe nicht, was ich thue, ich
umarme Euch Alle, ich ergreife Eure Hände in der Runde! Hier, das ist
die Kleinste, die ich zuletzt fasse Zittre nicht, zittre doch nicht, ich halte
Dich ja in meinen Armen Amme, Amme, was thust Du da? Ich bin hier
wie eine tastende Mutter, und meine Kinder warten auf Licht

(Die Amme kommt mit der Lampe näher und die Gruppe löst sich vom Schatten
ab. Die Gefangenen scheinen in Lumpen gekleidet; ihr Haar ist wirr, ihre Gesichter
sind abgemagert, die Augen verstört und geblendet. Ariane fährt einen Augen-
blick zurück, nimmt dann der Amme die Lampe aus der Hand und leuchtet damit,
um sie näher zu besehen.)

ARIANE:

Ach, Ihr habt gelitten! (Sie blickt um sich.) Und wie traurig ist Euer
Kerker! Auf meine Hände fallen grosse kalte Tropfen, und die Flamme meiner
Lampe zittert beständig Wie seltsam Ihr mich anblickt! Warum weicht Ihr
vor mir zurück, wenn ich näher komme? Habt Ihr noch Angst? Welche ist’s,
die da fliehen will? Ist’s nicht die Jüngste, die ich eben herzte? Mein langer
Schwesterkuss hat Dir doch nichts zuleide gethan? Komm doch her, fürchtest
Du denn das Licht? Wie heisst sie?

ZWEI ODER DREI ZITTERNDE STIMMEN:

Sélysette

ARIANE:

Sélysette Du lächelst? Das ist das erste Lächeln, das ich hier
erblicke Deine grossen Augen zögern noch, als sähen sie den Tod, und
doch ist’s das Leben Und Deine kleinen blossen Arme zittern so traurig und
warten auf Liebe Komm’, komm’, meine Arme warten auch, doch sie
zittern nicht

SÉLYSETTE
(wirft sich an Arianes Brust):

Ihr seid die Schönere

ARIANE:

Nein, aber ich bin die Ältere Und die dort, die durch ihre Haare
blickt — fürwahr, sie umgeben sie wie unbewegliche Flammen — wie nennt
die sich?

SÉLYSETTE:

Melisande.

ARIANE:

Komm auch her, Melisande Und die, deren grosse Augen dem Licht
meiner Lampe begierig folgen?

SÉLYSETTE:

Das ist Ygraine.

ARIANE:

Und die dort, die sich über einen leeren Spinnrocken beugt?

SÉLYSETTE:

Das ist Bellangère. — Und die andre, die sich hinter dem dicken Pfeiler
verbirgt, ist von weither gekommen; das ist die arme Alladine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 401, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0401.html)