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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 402

Text

MAETERLINCK: BLAUBART UND ARIANE.

ARIANE:

Warum ist sie arm?

SÉLYSETTE:

Sie ist zuletzt gekommen und versteht unsre Sprache nicht

ARIANE
(streckt die Arme nach Alladine aus):

Alladine! (Alladine eilt auf sie zu und umschlingt sie mit ersticktem
Schluchzen): Siehst Du, ich spreche ihre Sprache, wenn ich sie so umarme

SÉLYSETTE:

Sie hat noch nicht aufgehört zu weinen

ARIANE
(blickt Sélysette und die andern Frauen erstaunt an):

Aber Du selbst lachst ja noch nicht. Du klatschst nicht in die Hände, und
die Andern sind stumm. Was ist denn? Wer seid Ihr denn? Lebt Ihr
immer so im Schrecken? Ihr lächelt kaum und folgt meinen Bewegungen mit
ungläubigen Augen. Wollt Ihr denn nicht an die frohe Botschaft glauben? Seht
Ihr denn nicht das Licht und die Thüre weit offen und die Treppe, die zu
weiten grünen Gärten hinaufführt, die droben blühen? Wisst Ihr denn nicht,
dass es Frühling ist? Als ich durch den Park nach den Grotten gieng, die
hier herunterführen, ach, da sog ich Lichtstrahlen und blauen Raum und
Morgenduft ein So viele Blumen blühten unter jedem meiner Schritte,
dass ich nicht wusste, wohin ich meine blinden Fusse setzen sollte Habt
Ihr denn die Sonne vergessen und den Thau in den Bäumen und das Lächeln
der See? Sie lachte heute morgens, wie sie dem hellen Lichte zulacht, wenn
sie selig erwacht, und ihre tausend kleinen Wellchen huldigten mir am Ge-
stade Kommt, folgt mir; die Thür erwartet Euch und meine Lampe
Oh!

(Einer der Wassertropfen, wie sie ununterbrochen die hohen Wölbungen aus-
schwitzen, fällt in diesem Augenblick in die Flamme der Lampe; gerade als Ariane
sich zur Thür wandte und sie vor sich hielt. Das Licht zittert noch einmal auf und
verlischt dann plötzlich ganz. Die Amme stösst einen Schreckensruf aus, und Ariane
steht betroffen.)

ARIANE
(im Dunkeln):

Wo seid Ihr?

SÉLYSETTE:

Hier Nehmt meine Hand. Geht nicht weiter; auf dieser Seite ist ein
stilles Wasser und sehr tief

ARIANE:

Seht Ihr denn noch?

SÉLYSETTE:

Wir haben ja lange genug in dieser Finsternis gelebt

MELISANDE
(kommt auch herbei):

Gebt mir die andere Hand. Das stille Wasser sperrt den ganzen Raum
nach der Thür zu.

YGRAINE
(ebenfalls herbeieilend):

Ihr könnt den Weg nicht zurückfinden

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 402, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0402.html)