Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 403
»Blaubart und Ariane« (Maeterlinck, Maurice)
Text
BELLANGÈRE:
Kommt hierher, es ist hier viel heller.
SÉLYSETTE:
Ja, führen wir sie ins Helle
ARIANE:
Also selbst in der tiefsten Finsternis ist Licht?
SÉLYSETTE:
Ja doch, es ist Licht. Seht Ihr nicht den grossen bleichen Schein, der
den ganzen Grund hinter der letzten Wölbung erhellt?
ARIANE:
Wo denn?
SÉLYSETTE:
O, wie blind Du bist! Ich will Dich küssen
ARIANE:
Wirklich, dort ist ein bleicher Schimmer, der immer grösser wird
SÉLYSETTE:
Nicht doch, es sind Deine Augen, Deine schönen erstaunten Augen, die
grösser werden.
ARIANE:
Woher kommt er?
MELISANDE:
Das wissen wir nicht Man sagt, es sei ein Luftloch, das sie ver-
gessen haben zuzumauern
ARIANE:
Aber man muss es doch wissen! (Sie geht nach dem Grunde und tastet mit
ihren Händen das Mauerwerk ab.) Hier ist Mauer hier auch hier auch
Aber weiter oben da sind keine Steine mehr zu fühlen Helft mir
doch auf dieses Felsstück hinauf. (Die Frauen helfen ihr hinauf.) Man könnte
meinen, es ist ein Altar. Das Gewölbe ist spitzbogenförmig Ist dies eine
unterirdische Kirche?
SÉLYSETTE:
Ja, ich glaube, das ist mir gesagt worden
ARIANE
(indem sie fortfährt, die Wände abzutasten):
Aber hier ist ein Riegel Ich fühle Eisenstangen und mächtige Riegel.
Habt Ihr nicht versucht, sie aufzustossen?
SÉLYSETTE:
Nein, nein, rührt nicht daran! Man sagt, das Meer bespült die Mauern
Die grossen Wogen werden eindringen
BELLANGÈRE:
Wegen des Meeres ist der Lichtschein auch so grünlich!
YGRAINE:
Wir haben es oft genug gehört, nehmt Euch in Acht!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 403, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0403.html)