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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 404

Text

MAETERLINCK: BLAUBART UND ARIANE.

MELISANDE:

Ja, ich sehe das Wasser über unseren Köpfen zittern

ARIANE:

Nicht doch, nicht doch! Es ist das Licht, das Euch sucht!

BELLANGÈRE:

Sie versucht zu öffnen!

(Die Frauen weichen entsetzt zurück und verbergen sich hinter einem Pfeiler, von
dem aus sie alle Bewegungen Arianes mit Flehen und Bitten verfolgen.)

ARIANE:

Meine armen Schwestern! Warum wollt Ihr denn, dass ich Euch be-
freie, wenn Ihr die Finsternis so liebt? Und warum weintet Ihr doch, wenn
Ihr glücklich wart? — Ha, die Stangen heben sich, die Flügel gehen auf
Gebt Acht

(Während sie noch spricht, gehen die schweren Flügel, die eine Art von Innenthür
bilden, thatsächlich auf, doch dringt nur ein matter, fast düsterer und unsicherer
Schein herab und erhellt die gerundete Öffnung unter der Wölbung.)

ARIANE
(untersucht weiter):

Nein, das ist noch nicht das wirkliche Licht! Was ist nur unter
meinen Händen? Ist’s Glas, ist’s Marmor? Es ist wie eine Glasscheibe, die ge-
theert ist Meine Nägel sind abgebrochen Wo sind Eure Spulen? Sélysette,
Melisande, eine Spule, einen Stein! Nur Einen von den Kieseln, die zu Tausenden
am Boden liegen! (Sélysette eilt mit einem Stein herbei und reicht ihn ihr
hinauf.) Dies ist der Schlüssel Eures Morgenroths! (Sie schlägt mit Macht
gegen die Scheibe und schlägt ein Stück heraus. Ein breiter, blendender Lichtwürfel
fällt in die Finsternis. Die Frauen stossen einen gellenden Angstschrei aus, und Ariane,
von immer unerträglicherem Licht umflutet, kann sich kaum mehr fassen und zer-
schlägt im Glückstaumel alle übrigen Scheiben mit wuchtigen Schlägen.) Hier
diese noch und diese noch! Die kleine und die grosse und die letzte auch
noch! Das ganze Fenster bricht entzwei, und die Flammen drängen meine
Hände und Haare zurück! Ich sehe nichts mehr, ich kann die Augen nicht
mehr aufthun Kommt noch nicht näher, die Strahlen scheinen trunken zu
machen Ich kann mich nicht mehr aufrichten, ich sehe mit geschlossenen
Augen die langen Perlenschnüre, die meine Lider peitschen Ich weiss nicht,
was auf mich einströmt Ist’s der Himmel oder das Meer? Ist’s der Wind
oder das Licht? Mein ganzes Haar ist ein Lichtbach Ich bin mit
Wundern übersäet Ich sehe nichts und höre alles; tausend Strahlen be-
stürmen mein Ohr. Ich weiss nicht, wo ich meine Augen verbergen soll. Meine
beiden Hände geben keinen Schatten mehr, meine Lider blenden mich, und meine
Arme bedecken sie, bedecken sie mit Licht Wo seid Ihr? Kommt alle her,
ich kann nicht hinab. Ich weiss nicht, wohin ich meine Fusse setzen soll in den
Feuerwogen, die mein Kleid heben Ich werde in Euer Dunkel hinabfallen

(Bei diesen Hilferufen kommen Sélysette und Melisande aus ihrem Schatten
hervor, eilen, die Hände vor den Augen, als ob sie durch Flammen schritten, an
das Fenster und steigen, im Lichte tastend, auf den Stein neben Ariane. Die
anderen Frauen folgen ihrem Beispiel und drängen sich alle in den blendenden Licht-
würfel, der sie zwingt, die Augen zu senken. Einen Augenblick stehen sie geblendet
und schweigen. Man hört draussen das Rauschen des Meeres, das Flüstern des Windes
in den Gräsern, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen und den Glockenklang
einer fern in der Landschaft vorbeiziehenden Herde.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 404, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0404.html)