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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 407

Text

DRITTER ACT.

Die Marmorsäulenhalle. Die Laden und Kästchen stehen offen. Überall auf Hausrath
und Teppichen liegen die kostbaren Seidenstoffe, Gold- und Silberbrocate, Perlen-
Halsbänder, Gürtel und Armbänder, Ringe und Geschmeide aller Zeiten und Länder
ausgebreitet. Es ist Nacht; die Kronleuchter brennen. Die FÜNF FRAUEN stehen vor
den grossen Spiegeln und knüpfen ihr Haar auf, legen ihre schimmernden Gewänder
in Falten und schmücken sich mit Blumen und Edelsteinen, während ARIANE von der
Einen zur Andern geht, ihnen räth und hilft. Die Fenster öffnen sich in die Nacht.

SÉLYSETTE:

Ariane, glaubst Du, dass er heute abends noch zurückkommt?

ARIANE:

Ja, ich habe den ganzen Tag lang eine grosse Bewegung im Dorfe be-
merkt. Die Bauern müssen eine schlimme Nachricht bekommen haben. Sie
haben sich mit Gabeln und Knütteln bewaffnet. Sie haben versucht, an das
Schloss zu kommen, aber die Wache ist ihnen am Aussenthor entgegen-
getreten

SÉLYSETTE:

Wo ist er hingegangen?

ARIANE:

Er hat’s mir nicht verrathen. Er ist noch am Abend desselben Tages
gegangen, an dem ich gekommen bin. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.

SÉLYSETTE:

Er hat Dich mehr als einmal geküsst?

ARIANE:

Ja.

MELISANDE:

Oh, ich fürchte mich Du wirst nicht fortgehen?

ARIANE:

Wie soll ich denn fortgehen, wo alle Thore geschlossen sind? Aber was
thust Du da, Melisande? Dein Haar ist fast wie ein Wunder. Dort unten im
Kerker leuchtete es und würde noch in der Nacht des Grabes lächeln. Und Du
bemühst Dich, jede seiner Flammen zu ersticken? Halt an, dass ich noch
einmal das Licht befreie.

(Sie reisst ihr den Schleier fort, schneidet die Bänder der Haarflechten mit der
Schere entzwei, und Melisandes ganzes volles Haar geht plötzlich auf und über-
strömt ihre Schultern wie Gold.)

YGRAINE
(sich umwendend, um Melisande zu sehen):

Oh!

SÉLYSETTE
(sich gleichfalls umwendend):

Und so schön ist sie, dass ich fast glaube, sie ist’s nicht mehr

ARIANE
(geht zu Sélysette):

Und Du, Sélysette, was hast Du gemacht? Wo sind Deine holdseligen Arme?

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 407, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0407.html)