Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 408

Text

MAETERLINCK: BLAUBART UND ARIANE.

SÉLYSETTE:

Hier doch, in meinen Silberärmeln.

ARIANE:

Ich sehe sie nicht mehr Ich habe sie noch eben bewundert, als Du
Dein Haar aufnahmst. Sie schienen sich zu erheben und um Liebe zu bitten, und
gerührt folgten meine Augen allen ihren Bewegungen und liebkosten sie Ich
wende mich um, und wie ich zurückkomme, finde ich nur noch ihren Schatten
(Knüpft die Ärmel ab.) Noch einmal zwei Glücksstrahlen, die ich doppelt be-
freie

SÉLYSETTE:

Oh, meine blossen Arme, sie werden vor Kälte zittern

ARIANE:

Nicht doch, sie sind ja entzückend (Geht zu Ygraine.) Wo bist Du,
Schwester Ygraine? Diesen Augenblick sah ich in diesem Spiegel noch Schultern
und einen Hals, die ihn ganz mit lieblichem, seligem Schimmer erfüllten. Ich
muss alles befreien Wahrhaftig, meine jungen Schwestern, ich wundre
mich nicht mehr, dass er Euch gar nicht so geliebt hat, wie es hätte sein
sollen; und wenn er hundert Frauen wollte, so hatte er eben keine (Nimmt
Ygraine den Mantel von den Schultern.) Siehe da, zwei Quellen der Schönheit, die
sich im Finstern verlieren würden Vor allem fürchtet Euch nicht Seid
schön heute Abend

(Durch eine Seitenthür erscheint die AMME, verstört und mit aufgelösten Haaren.)

DIE AMME:

Er kommt zurück! Er ist da!

DIE FRAUEN:

Wer? Er? Heute Abend? Oh!

ARIANE:

Wer hat Dir das gesagt?

SÉLYSETTE:

Wie hat man Dich hinausgelassen?

ARIANE:

Hast Du jemanden gesehen?

DIE AMME:

Ja, einen von der Wache Er hat Dich gesehen und betet Dich an.

ARIANE:

Wen? Mich?

DIE AMME:

Ja.

ARIANE:

Aber ich habe doch keinen Menschen gesehen, seit er fort ist. Alle Thüren
giengen auf, ich weiss nicht wie, und das Schloss schien verödet

DIE AMME:

Sie haben sich versteckt Sie haben uns nicht aus den Augen ge-
lassen Der Jüngste hat mir gesagt Er hat mir gesagt dass er
wiederkäme Er muss ganz nahe sein Die Bauern wissen es. Sie
sind bewaffnet Sie empören sich Das ganze Dorf steckt in den
Hecken Sie lauern ihm auf. Horch, sie schreien. (Sie läuft ans Fenster.)
Ich sehe Fackeln im Walde

(Die Frauen stossen einen Angstschrei aus und rennen verzweifelt im Saale herum,
einen Ausweg suchend. Die Amme versucht, sie zurückzuhalten.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 17, S. 408, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-17_n0408.html)