Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 443
Text
O Mutter der Erinnrung, Frau der Frauen,
Mein ganzes Glück und meine ganze Acht!
Kannst Du im Geist die schönen Freuden schauen,
Des Reimes Frieden und den Reiz der Nacht?
O Mutter der Erinnrung, Frau der Frauen.
In Nächten, leuchtend von der Kohle Glut,
In Nächten am Balkon, die rosig wallten,
Wie war Dein Busen süss, Dein Herz mir gut!
Und unvergängliche Gespräche schallten
In Nächten, leuchtend von der Kohle Glut.
An heissen Abenden, wie schön die Sonnen!
Wie stark das Herz! Wie weit die Himmelsluft!
Ich ruhte bei Dir, Königin der Wonnen,
Zu athmen glaubt ich Deines Blutes Duft,
An heissen Abenden, wie schön die Sonnen!
Dann ward es dunkler, wie in dichtem Rauch,
Mein Auge forschte, ob es Deines fände,
Ich trank — o Gift, o Süsse — Deinen Hauch,
Dein Fuss entschlief in meine Bruderhände.
Dann ward es dunkler, wie in dichtem Rauch.
Ich weiss in Glückes Zeit mich zu versenken,
Wo mein Geschick in Deinen Knieen lag.
Wer soll mir zarter Reize Freuden schenken,
Wenn es Dein Leib, Dein lindes Herz nicht mag?
Ich weiss in Glückes Zeit mich zu versenken.
Ihr Schwüre, Düfte, Küsse ohne Zahl!
Ersteht Ihr auf aus unerspähten Schlünden,
Wie junge Sonnen, die zum Wolkensaal
Sich heben nach dem Bad in Meeresgründen?
O Schwüre, Düfte, Küsse ohne Zahl!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 443, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0443.html)