Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 446

Zur Psychologie des Betens (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 446

Text

ZUR PSYCHOLOGIE DES BETENS.
Von AUGUST STRINDBERG (Lund, Schweden).

Es gab vor ein paar Jahren in Frank-
furt a. M. einen Wunderthäter, der Kranke
durch Auflegen der Hände heilte, ganz
wie Dr. Charcot in Paris und die Lehrer
am gymnastischen Institut. Doch der
Wunderthäter hatte die Gewohnheit,
während des Actes Gebete zu lesen. Da der
Mann ungebildet war und keine Erklärungs-
gründe für sein heilendes Vermögen finden
konnte, schrieb er es ganz bescheiden
einer höheren Macht zu. Als der
arme Mann dazu kam, dass ein hoch-
stehender Siechling auf ihn aufmerksam
wurde, und er damit Ehre gewann, wurde
es bald ins liberale Programm aufge-
nommen, den Wunderthäter zu hecheln.
Das Factum blieb indessen bestehen: dass
der Mann gewisse Krankheiten, besonders
die Nervenleiden, durch Händeauflegen
— und Gebet — heilte. Ich sah den
Mann nie. Doch da ich Arzt war,
musste ich mich gegen den »Char-
latan« aussprechen, obwohl ich weder
ihn, noch sein Verfahren gesehen hatte.
Von dem Händeauflegen hatte ich eine
Meinung, da ich durch Streichungen
Kopfschmerz zu heilen pflegte; von der
Macht des Gebetes dazu hatte ich mir
keine Meinung gemacht. Ich verwarf sie
auf Grund eines kategorischen Postulats,
das mir befahl, alles zu verwerfen, was
die Wissenschaft auf ihrem gegenwärtigen
Standpunkte verwarf, und ich hatte neulich
einen Arzt in Vergessenheit und Misère
stürzen sehen, weil er, zur Untersuchung
nur, die vierte Dimension angenommen.
Doch ein Geschehnis, das gleich darauf in
meinem eigenen Hause eintraf, zwang mich
gegen meinen Willen und gegen mein
Interesse, die Frage von der Macht des
Gebetes zur Untersuchung aufzunehmen.

Hier der Verlauf der Sache:

Ich werde eines Nachts von meiner
Frau geweckt, die mit Geberden der Ver-
zweiflung meldet, meine siebenjährige
Tochter habe Krämpfe bekommen. Nach-

dem ich mir die Kleider übergeworfen
habe, gehe ich in die Kinderkammer. In
ihrem kleinen Bette lag meine Tochter
im Starrkrämpfe. Die Glieder waren steif,
die Daumen der Hand nach einwärts
gewendet; die Augen waren blutgesprengt,
stier und das Gesicht blau. Alle Zeichen
gaben an die Hand, dass es ein Anfall von
Epilepsia nocturna oder Fallsucht war. Ich
gieng sofort zum Medicamentenschrank,
nahm Bromkalium und Belladonna hervor
und beruhigte meine Frau, es würde gleich
vorüber sein. Wenn ich auch selbst nur
wenig Vertrauen auf die Mittel setzte,
jagte mir der aufgegebene Gemüthszustand
meiner Frau einen unerschütterlichen
Glauben ein, und obwohl ich selbst ver-
zweifelt war, das Liebste, das ich besass,
zu verlieren fürchtend, wurde ich von einer
unbeschreiblichen Ruhe überfallen, als ich
meiner Frau Ruhe einsprach, ganz wie
der Berauschte nüchtern wird, wenn er
einen anderen berauscht sieht und ihn
nüchtern machen will. Ich mass die Dosen
ab, ohne mit der Hand zu zittern, gab
sie dem Kinde mit voller Zuversicht, es
wieder hergestellt zu sehen. Doch als die
Wirkung ausblieb, und der Anfall sich
mit grösserer Kraft erneuerte, und mein
Weib mir zweifelnde Blicke zuwarf, fiel
ich zusammen. Hier war nur der Tod zu
erwarten, denn das Kind war schwach
und schien mir keine Widerstandskraft
zu haben. Es war mir, als ob man im
Begriffe stände, mir ein Glied abzuschneiden,
einen Theil meiner Seele zu exstirpieren,
wie es auch war, da ich diesem Kinde
Fleisch von meinem Fleische gegeben und
meine Gedanken in sein Gedankencentrum
gegossen hatte. Machtlos, bestürzt, fühlte
ich meine Kraft mit dem abnehmenden
Leben des Kindes verschwinden und
setzte mich rathlos auf den Stuhl neben
dem Bette nieder. Meine Frau war beim
Bette auf dem Boden zusammengefallen
und schien eine todte Masse.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 446, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0446.html)