Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 445
Text
In ihren Kleidern, die mit Schillern flattern,
Erscheint es, dass sie tanzt, auch wenn sie geht,
Wie eines heilgen Gauklers lange Nattern,
Die er auf einem Stab im Takte dreht.
Wie todter Sand und Wolkenrand der Wüsten,
Zu denen fruchtlos menschlich Leiden schreit,
Wie Wellennetze an den Meeresküsten
Entfaltet sie sich ohne Achtsamkeit.
Ihr glänzend Aug ist herrlich Mineral.
In diesem Wesen, Sinnbild seltner Art,
Wo reiner Cherub mit dem Sphinx sich paart,
Wo alles Gold ist, Diamant und Stahl,
Liegt, wie der eitle Glanz der Sternenscharen,
Die kalte Hoheit einer Unfruchtbaren.
Heut strahlt der Abendgöttin Licht geringer.
Wie eine Schönheit auf der Kissen Wust,
Die vor dem Schlafe mit zerstreutem Finger
Leis überspielt die Linien ihrer Brust,
So ruht sie auf den flaumigen Lawinen
Im Sterben langen Schwächen hingegeben,
Das Auge richtend auf die weissen Mienen,
Die Bütengüssen gleich im Azur schweben.
Wenn müd und schmachtend sie auf unsre Sphäre
Verstohlen manchmal träufelt eine Zähre,
So naht ein Dichter, der den Schlummer flieht.
Er fängt die Zähre auf, die Hand als Schale,
Dies Stück von farbenspiegelndem Opale
Verbirgt er, dass es nicht die Sonne sieht.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 445, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0445.html)