Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 444

Dichtungen nach Baudelaire (George, Stefan)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 444

Text

CHARLES BAUDELAIRE: DIE BLUMEN DES BÖSEN. FREMDLÄNDISCHER DUFT.

Wenn sich mein Auge schliesst am Sommerabend,
Und Deines heissen Busens Duft mich lezt,
Dann bin ich in ein selig Reich versetzt.
An immer gleicher Sonnenglut sich labend

Ein träges Eiland, das Natur beglückt
Mit seltnen Bäumen, Früchten süsser Säfte,
Mit Männern schlanken Leibes voller Kräfte,
Und Frauen, deren Auge Freimuth schmückt.

An wunderbarem Strand bin ich zu Gast,
Im weiten Hafen drängt sich Mast an Mast,
Noch von der Reise Müh ein wenig düster;

Indes vom grünen Tamarindengang
Entschwebt ein Duft und dringt mir in die Nüster,
Vermischt im Geiste mit der Schiffer Sang.

ZIGEUNER AUF DER REISE.

Das Volk der Zaubrer, deren Augen blitzen,
Zieht weiter: Auf der Mütter Rücken sitzen
Die Kleinen oder stillen ihr Gelüste
Am immer offnen Schatz der langen Brüste.

Zu Fuss die Männer, die in Waffen starren,
Die Ihren kauern neben in den Karren,
Am Himmel suchen sie mit trübem Blicke
Die fernen Bilder glücklicher Geschicke.

Aus sandigem Versteck die Grille schaut
Und singt vor ihnen noch einmal so laut,
Die Mutter Erde liebt sie — Blumen dehnen

Sich in den Wüsten, Laub und Gräser sprossen,
Und Felsen fliessen vor den Wandrern, denen
Der Zukunft Finsternisse sich erschlossen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 444, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0444.html)