Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 447

Zur Psychologie des Betens (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 447

Text

STRINDBERG: ZUR PSYCHOLOGIE DES BETENS.

Plötzlich sehe ich die Gestalt meiner
Frau sich aufrichten, ihre Hände sich
zum Gebet falten; ihr Kopf beugt sich
und der Rücken wird gerade. Ihre Lippen
bewegen sich, und der kleine dünne Körper
scheint sich mit Kraft zu füllen, die
schlaffen Muskeln des Gesichtes strecken
sich und die Augen bekommen Glanz.

»Thu’ etwas!« befiehlt sie mir.

Und ich gehorche, wenn ich auch
nicht weiss, was ich thun soll. Maschinen-
mässig und nur, um zu gehorchen, lege
ich meine eine Hand auf die Stirn des
Kindes, die andere auf seine Brust und
bleibe sitzen. Während mein Weib fort-
während in stillem Gebet verbleibt, er-
neuert sich der Anfall unter meinen
Händen, die gehoben werden, ohne Wider-
stand leisten zu können, denn ich war
vollständig machtlos.

»Bitte Gott, dass er uns hilft!« befiehlt
mein Weib.

In diesem Augenblick schwebte mir
Kants Widerlegung der Kraft des Gebetes
vor, Gottes Willen (in meiner Übersetzung:
die Gesetze der Natur) zu ändern, und
ich bat natürlicherweise nicht. Beim
nächsten Anfall, als wir glaubten, alles
würde zu Ende gehen, fasst die Frau
meinen Arm und ruft aus: »Sie stirbt!
Bitte für sie

In diesem Augenblick hört alle be-
wusste Gedankenkraft bei mir auf; ich
vergesse Kant und den Atheismus, und
unter dem Einflüsse eines stärkeren Willens,
als meiner zur Zeit ist, beginnen meine
Lippen sich zu bewegen, und alte Worte,
die ich seit fünfundzwanzig Jahren nicht
wiederholt habe, kommen hervor. Mit den
Worten steigen alte Gedanken auf, mit
den Gedanken wächst meine Stärke. Die
Brust, die zusammengefallen war, füllt
sich mit Luft; das Rückgrat, das sich
gebogen hatte, wird gerade; meine Arme
spannen sich, und ich fühle gleichsam
einen Strom von neuer Kraft aus meinen
Fingern ausstrahlen. Die Hoffnung wächst
wieder, ein Optimismus bemächtigt sich
meiner, und ich glaube, dass ich das
Kind mit blossen Händen heilen kann.
»Siehe, so einfach!« will ich sagen, wie
ich in einem oft wiederkommenden Traum
zu thun pflege, in welchem ich die Kunst
des Fliegens lehre. — — Ob das, was

folgt, im Causalzusammenhang mit dem
Gebet steht, kann ich nicht vor der
Wissenschaft beschwören, aber Folgendes
traf ein: So lange ich betete (wenn ich
es so nennen kann), verblieb das Kind
ruhig; aber eine Weile, nachdem ich
aufhörte, begannen die Paroxysmen wieder.
Und ich betete von neuem, ich glaube,
ich las das »Vater unser« und den »Segen«
fünfundzwanzigmal, und ich würde Buddha
angerufen haben, wenn ich irgend einen
Vortheil dabei gesehen hätte. Gegen
Morgen fiel das Kind in Schlaf und war
gerettet!

Was soll ich nun davon glauben?
Mein Weib war gewiss, dass Gott uns
geholfen habe, doch darauf konnte ich
nicht eingehen. Ich schämte mich fürchter-
lich, wie nach einem Charlatanstück; doch
die Hauptsache war gewonnen, und meine
Seele hatte keinen Schaden genommen.
Dass es meine Nervenströme waren, die
die des Kindes durch Contact und Leitung
regelten, dafür hatte ich den unumstöss-
lichen Beweis der Wissenschaft; bleibt
nur ein Erklärungsversuch übrig, wie das
Gebet die Ströme wecken konnte, die im
Anfange sich passiv verhielten.

Wenn ich meine religiöse Entwicklung
von der Kindheit an durchgehe, glaube
ich einige Spuren zu einer Erklärung
finden zu können, die, wenn sie nicht
heute zufriedenstellend ist, doch in der
Zukunft möglicherweise sich zu einer
Theorie auswachsen kann. Meine ältesten
Erinnerungen leiten mich zurück zu einer
Zeit beständiger Furcht. Mir war bange
vor dem Dunkel, vor dem Donner, vor
meinen starken Geschwistern, vor meinem
Vater. Es schien mir immer, als schwebte
ein grosses Dunkel vor mir, das wahr-
scheinlich nichts anderes als das Unbe-
kannte im Leben und möglicherweise die
Zukunft selbst war. Der erste Gott, das
will sagen: der Beschützer, den ich kannte,
war meine Mutter. In ihre Arme flüchtete
ich mich, wenn diese Panik des Kindes
vor dem Dunkeln mich überfiel. Sie
tröstete mich, beruhigte mich, verband
meine Wunden, lehrte mich die Ursachen
für alle diese schreckenden Wirkungen,
die ich sah. Aber als ich etwas Verstand
bekam, lehrte sie mich, zu Gott beten.
Es war des Abends, wenn ich mich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 447, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0447.html)