Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 448

Zur Psychologie des Betens (Strindberg, August)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 448

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STRINDBERG: ZUR PSYCHOLOGIE DES BETENS.

niederlegte, und das Licht gelöscht werden
sollte. Sie lehrte mich, dass er über uns
wache, wenn wir schlafen, und dass er
alle bösen Mächte bekämpfen könnte.
Doch — hier schob sie wieder den Gott
der Furcht und des Opfers ein — er
beschütze nur Die, die artig und gehorsam
gegen ihre Eltern sind. Das letztere
sprach mich weniger an und war unnöthig,
denn ich hatte vor meinem Vater Furcht
genug, um nicht ungehorsam zu sein.
Seitdem betete ich stets des Abends, und
ich schien mir von aussen eine ungeheuere
Ruhe zu holen, die gegenüber der, die
meine Mutter mir früher geschenkt hatte,
in Stärke aufgieng. Aber des Morgens,
wenn der Tag hell war, betete ich nicht;
wahrscheinlich, weil mir nicht mehr bange
war. Diese Gewohnheit zu beten hieng
mir lange an. Ich betete, wenn ich zur
Schule gieng, dass ich in meinen Auf-
gaben entspräche; ich betete auf dem
Heimwege, dass ich gutes Mittag bekäme.
Und konnte ich meine Aufgaben nicht
und bekam ich schlechtes Mittag, so
vergass ich entweder zu controlieren oder
ich war bereits ein solcher Fatalist, dass
ich glaubte, es sei Gottes Wille, wenn
ich nicht erhört worden, oder ich ver-
schloss die Augen vor dem Missgeschick,
um mir nicht für ein anderesmal die Zu-
versicht, dass Gott mit mir sei, zu rauben.
Die Furcht gieng oft so weit, dass sie
»den Muth des Feigen« hervorpresste, und
damit kroch oft die Besinnung oder der
Verstand hervor. Ich kam dann zu mir
selbst, sammelte mich, fasste mich, und
die Klugheit verjagte den momentanen
Wahnsinn, den der Schreck hervorgerufen
hatte — — In meinen Gedanken von Gott
gieng die Vorstellung von einem unendlich
starken Manne einher, von dem ich
durch das Gebet Kraft entlehnte.

Mit wachenden Kräften, mit dem
Wissen von der Welt und mit einem
grossen Freundeskreise, der stützte, gieng
die Furcht fort, und damit hörte das
Beten so allmählich auf. Doch Gott
sass noch, wenn er auch nach und nach
zu einer atheistischen Prämisse verstummte,
von welcher alles als Conclusion emanierte.
Er war ein philosophischer Begriff ge-
worden. Mit dem Darwinismus fand ich
Gott nicht aufgehoben für mich, denn

dass die Schöpfung sich nach bestimmten
Gesetzen und in einer klaren Ordnung
entwickelt hat, bestärkte im Gegentheil
meinen Argwohn von dem Dasein eines
Ordners und Gesetzstifters. Wie wurde
ich denn Atheist?

Nachdem ich bis zu dem sechsund-
dreissigsten Jahre gelebt hatte, wie wenn
ich gewiss wäre, dass ein Leben nach
diesem das wiedergeben würde, worauf ich
in diesem verzichtet hatte; durchdrungen
von der falschen Vorstellung, dass ich
für die Menschheit arbeitete, für andere,
während ich für eine Partei strebte, befand
ich mich mit Frau und zwei Kindern vor
einer Krisis, die so gewaltsam war, dass
ich nur den Tod vor uns sah. Alle Zu-
gänge waren geleert, alle Aussicht auf
ein Wiedereintreten in die Gesellschaft
und auf eine Stellung war zu Ende. Meine
Seelen- und Körperkräfte waren äusserst
herabgestimmt; ich fühlte, dass es die
Vernichtung war, die sich näherte. Doch
ich musste grössere Kraftfonds besessen
haben, als ich glaubte, denn jetzt erhob
sich meine Widerstandslust, und anstatt
Gott anzurufen, forderte ich den Tod zum
Ringkampfe heraus. Ich wurde Atheist
aus Pflicht, aus Nothwendigkeit; damit
hatte ich meine Schiffe verbrannt und
musste hinauf aufs Land gehen, um zu
streiten; einsam, ohne Freunde, ohne
Stütze. Und mit einer Kraft, die ich früher
nicht gekannt hatte, auf mich selbst an-
gewiesen, setzte ich mich an den Schreib-
tisch und stellte mein Conto auf. Ich fand
jetzt in der elften Stunde der Noth, dass
die Gefahr zum Theil nur eingebildet war
unter dem Einflüsse der Nervenabspannung.
Bei näherer Untersuchung entdeckte ich,
dass die Zukunft sich in vollem Lichte
zeige. Darauf suchte ich die Stellung heraus-
zufinden, wohin Natur und Begabung mich
riefen; entdeckte die Ströme, die mich
tragen können, statt, wie früher, die Ströme
leiten zu wollen. Und damit war mein
Fahrzeug vom Schiffbruche gerettet! Aus
einem Wehrlosen, Regellosen, Feigen
wurde ich ein stets bewaffneter Kämpe.
Darum wurde der Atheismus meine neue
Religion, und wenn ich jetzt am Kranken-
bette des Kindes, im Schlafe überrascht,
der meine Kräfte gelähmt hatte, zum
Gebete griff, so geschah es unter den

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 448, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0448.html)