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Umständen, die ich oben angeführt habe.
Wäre ich am Tage gerufen worden, des
Morgens etwa, wo ich bei voller Körper-
stärke war, würde ich nie zu diesem
Mittel gegriffen haben, und so glaube ich
fortdauernd, dass das Gebet nicht dem
Kinde geholfen, sondern mir.
Wie konnte es mir helfen? Und
was ist die physio-psychologische Formel
des Gebetes? Wenn ich Pantheist wäre,
würde ich die Erklärung wagen, dass das
Individuum dadurch, dass es aus sich
selbst herausgeht, aus der Weltseele Kraft
holt und, wie Archimedes, den Punkt auf-
sucht, von dem aus es die Welt zu be-
wegen vermag, und der nur ausserhalb
liegen kann. Doch das ist nur Metaphysik.
— — Alle Völker haben das Gebet ge-
braucht, mit oder ohne Opfer, und haben
es dadurch wirksam gefunden, dass es den
Muth und die Kraft erhöhe. Seine Wirkung
auf das Subject ist also ein historisches
und reelles Factum. Doch je schwächer
und je niedriger das Individuum ist, desto
stärker ist es im Gebet.
Sollte sich nun, physiologisch ge-
nommen, das niedrig stehende Individuum,
das meist noch von der unbewussten Reflex-
thätigkeit des Spinalsystems gelenkt wird,
durch dieses Aus-sich-herausgehen nur zu
der bewussten des Cerebralsystems er-
heben, wodurch Reflexion, Ruhe und
Selbstbeherrschung die Spukbilder der
Furcht überwinden? Des Nachts, da mein
Gehirn leer war und mein Bewusstsein
halb erloschen, kam es mir vor, als wenn
ich — dadurch, dass ich meine Gedanken
auf etwas Eingebildetes »ausserhalb«
richtete und das Gedächtnis anstrengte,
um vergessene Worte zurückzurufen —
das Blut wieder hinauf in das Organ des
Bewusstseins getrieben hätte, das also
seine Stärke wieder bekam und alle
Nervenströme in Bewegung setzte. Als
meine Frau mir zu beten befahl, und ich
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gehorchte, war dies nur eine Reflexbewe-
gung von meiner Seite; der Umstand
aber, dass ich nachher nicht an die Macht
des Gebetes, Gott zu einem Wunder be-
wegen zu können, glaubte, zeigt, dass ich
dann den vollen Gebrauch meines Be-
wusstseins und das Vermögen, die niedrigen
Nervencentren zu beherrschen, wieder-
gewonnen hatte.
Psychologisch könnte die Sache
sich einfacher zeigen. Ich bitte um Hilfe;
glaube oder bilde mir ein zu glauben,
mir sei geholfen, und die Stärke kehrt
zurück mit der Hoffnung. Ich bitte
jemanden um einen Dienst. Er sagt:
nein! Ich liege geschlagen da. Aber
antwortet er ausweichend, weder ja noch
nein, dann narrt mich mein Optimismus —
und ich hoffe; mit der Hoffnung bekomme
ich Muth, mich aus der Verlegenheit zu
ziehen, und ich habe seine Hilfe genossen,
auch wenn er mir niemals geholfen hat.
Darum sagt auch sehr richtig die Schrift:
man solle glauben, um erhört zu werden.
Doch der Glaube ist nichts anderes als
eine Concentrierung des Wunsches und
des Begehrens, noch bis zum bewussten
Willen gesteigert, und das Wollen ist die
grösste Steuerung der Nervenbewegung
und beruft darum zu seiner Verfügung
die höchstmögliche Kraft ein. Sollte das
Gebet also nichts anderes sein als ein
Sammeln aller zu Gebote stehender Be-
wusstseinskräfte auf einen Punkt, so ist
das nichts anderes als eine Umschreibung
der Erklärung, die der Gläubige gibt, da die
Natur bisher sich am herrlichsten und
grössten in dem wunderbaren Kraftquell
geoffenbart hat, den der Mensch, die Krone
der Schöpfung, zuhöchst unter des Scheitels
Wölbung trägt und aus dem er dann
und wann Macht schöpft, um die Erde
aus ihrem Dunkel zu heben oder den
Blitz vom Himmel zu reissen.
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