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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 450

Text

VON DER FRAUEN SCHAM UND FREIHEIT.
Von LEO BERG (Berlin).

In einem gewissen Zeitpunkte der
weiblichen Seelen-Entwicklung theilt sich
das Schamgefühl der Frauen in eine
allgemeine und eine persönliche
Schamhaftigkeit, und zwar so, dass das
Schwergewicht des Gefühls in die höhere
persönliche Gefühlsschichte verlegt wird:
analog der allgemeinen Gefühlsentwicklung
des Menschengeschlechtes. Beim Manne
beobachten wir dasselbe in Bezug auf sein
Ehrgefühl, das gleichfalls eine Unter- und
Oberschichte von Standes- und persönlicher
Ehre unterscheidet. Die persönliche Scham
und Ehre ist gleichsam die Burg, in der
sich der Mensch individuell verschanzt,
und die nie ohne grosse Störungen und
Gefahren verletzt wird. Sie ist, was der
Schnecke ihr Haus, dessen Vernichtung
Tod bedeutet; dasjenige, was am meisten
geschont werden muss, das als der eigenste
und geheimste Reiz des Menschen geachtet
sein will. Angriffe auf sie sind Angriffe
aufs Leben, ihre Verletzungen sind tödtlich,
sie machen den Menschen waffen- und
schutzlos und werfen ihn leicht ganz aus
seiner Bahn. Ehre und Scham sind die
eigentlichen Lebensorgane der bürgerlichen
Existenz.

Viele Frauen überwinden nun die
allgemeine Scham sehr leicht, ohne die
persönliche dadurch zu tangieren, während
die eigentlich Schamlosen die persönliche
preisgeben, ohne die allgemeine überwunden
zu haben. Die allgemeine Geschlechts-
scham zu überwinden hilft Bildung, Ver-
nunft, Ernst der Situation und Lebens-
auffassung. Wenigstens gilt dies als Voraus-
setzung für alle anständigen und gebil-
deten Frauen, die sich mit ernster Lecture
und Arbeit beschäftigen, studieren, in
Krankenhäusern, Schulen, Wohlfahrts-
anstalten u. s. w. thätig sind. Hier können
sie keinen Schritt gehen, ohne die Noth-
wendigkeit zu fühlen, die allgemeine
Frauenscham zu überwinden. Ernsten
Frauen gelingt dies in gewissem Alter

auch nicht schwer. In den Backfisch-
jahren, bei Perversen, bei Ungebildeten,
bei Sensitiven hingegen liegen beide Scham-
empfindungen noch verknotet ineinander,
so dass nichts die allgemeine Scham
berühren kann, ohne zugleich die persön-
liche empfindlich zu treffen. Verheirateten
ist natürlich die Trennung beider Empfin-
dungen leichter als Unverheirateten;
Älteren leichter als Jüngeren; Kälteren
leichter als Heissblütigen; Phantasielosen,
Unempfindlichen, denen das Combinations-
vermögen der Sinne fehlt, eher als
Phantastischen, Erregbaren; Frauen in
sicherer Lebensstellung früher als Prole-
tarierinnen; seelisch und geistig Ausge-
füllten schneller als Müssigen; individuell
Reicheren und Feineren, die schneller
zwischen sich und anderen in ihrem
Gefühle unterscheiden, eher als Conven-
tionellen.

Das Pflichtbewusstsein überwindet die
allgemeine Geschlechtsscham (der be-
quemste Hebel ist Frauen, zumal, wenn
sie Mütter geworden sind, der Umgang
mit Kindern), die persönliche aber nur
die Liebe. Eine Frau kann medicinische
Bücher schreiben und doch in Bezug auf
sich selbst von der Verschämtheit und
Verletzlichkeit eines Backfisches sein; und
ebenso natürlich umgekehrt. Die persön-
liche Scham der Frau wird nur vom
Geliebten und im Zustande der Liebe
überwunden, und zwar in jedem Falle
aufs neue überwunden. Denn die Liebe
ist es, welche die allgemeine Schamhaftig-
keit ins Persönliche concentriert. Nach
der Fähigkeit und dem Grade dieser
Concentration kann man beinahe die Art
und die Stärke der Liebe beurtheilen. Bei
Dirnen pflegt diese gänzlich zu erlöschen;
aber sofern sie noch lieben kann, vermag
die Liebe auch aus der Dirne eine virgo im-
maculata zu machen. Denn die Liebe
gibt ihr die persönliche Frauenscham
wieder, und zwar in jedem Falle.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 450, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0450.html)