Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 452

Von der Frauen Scham und Freiheit Isländische Cultur und Literatur der Gegenwart (Berg, LeoPoestion, Josef Calasanz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 452

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POESTION: ISLÄNDISCHE CULTUR UND LITERATUR DER GEGENWART.

langen, dass sie Einiges vom Wichtigsten
nicht erfahren und es doch wissen sollen,
heisst, ihnen verwehren, die allgemeine
Geschlechtsscham zu überwinden, was in
den weitaus meisten Fällen einzig durch
die Ehe oder ein eheliches Zusammen-
leben mit dem Manne geschieht, und sie
dann da hinstellen, wo sie sie bereits
überwunden haben müssen. Übrigens
überwindet die Frau die allgemeine Scham
am leichtesten noch auf legalem Wege,
weil ihr, die so schwer und so selten über
die Convention hinauskommt, so Gelegen-
heit wird, die Convention durch die Con-
vention zu überwinden. Deshalb würden
sich verheiratete Frauen unzweifelhaft noch
eher zur Erziehung eignen. Doch die können
es meist nicht werden, eben weil sie ver-
heiratet sind. Aber man soll nicht einen

Widersinn durch einen Unsinn besiegen
oder ausgleichen wollen.

Jedenfalls liegt hier der Knotenpunkt
der ganzen Frauenfrage. Schamvoll und
ehrbar, wissend und handelnd, unberührt
im Gedränge stehend, das ist ein bischen
viel verlangt von dem schwachen Ge-
schlecht. Man verlangt gar nichts weiter
von ihr, als dass sie aus der Keuschheit
den modernen Erlöser gebäre: das Wunder
— und glaubt dabei sehr wissenschaftlich
und sehr politisch zu sein. Wahrlich, unsere
Gesellschaft muss noch sehr viel intacte
Gesundheit in sich bergen, um so viele
Instinct-Umkehrungen zu ertragen. Die erste
Folge hat sich freilich längst erkenntlich
gemacht: die grundsätzliche Verlogenheit
der modernen Gesellschaft, namentlich in
Liebes- und Ehrensachen.

ISLÄNDISCHE CULTUR UND LITERATUR DER GEGENWART.
Von JOSEF CALASANZ POESTION (Wien).

Seit dem Anfang der Achzigerjahre
ist in deutschen Zeitungen, Zeitschriften
und Büchern immer häufiger und nach-
drücklicher auf die Cultur und Literatur
eines kleinen Völkchens hingewiesen wor-
den, das bis dahin nur selten genannt
wurde und in Bezug auf seinen Volks-
charakter und seine Bildung zumeist völlig
verkannt war. Diese Zurücksetzung und
Verkennung erscheint umso ungerechter
und seltsamer, als sie einen germanischen
Bruderstamm mit ruhmreicher Vergangen-
heit betraf, der noch heute durch seine
fast unverändert gebliebene Sprache wie
ein Überbleibsel aus der altnordischen Zeit
sich ausnimmt, dem wir auch die Erhaltung
und zum grössten Theile das richtige
Verständnis der entwickeltsten und reich-
haltigsten altgermanischen Literatur zu
verdanken haben und dessen moderne
Dichtung noch vielfach in den alten
Formen und mythologischen Vorstellungen
wurzelt. Die Ursache dieser Zurücksetzung
und Verkennung ist eine doppelte. Einer-
seits ist die Wohnstätte dieses einst aus
Norwegen eingewanderten, jetzt rund

70.000 Seelen zählenden Völkchens, die
vulcanische und gletscherreiche Insel
Island, wegen ihrer Entlegenheit und
wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit vom
Weltverkehr und Welthandel fast völlig
abgeschlossen, und anderseits haben die be-
rufenen Cultur- und Literaturforscher im Hin-
blicke auf die so hochbedeutsamen und für die
Wissenschaft wichtigen Erscheinungen der
altisländischen Cultur und Literatur (Edda,
Skaldengedichte, Sagas u. s. w.) die frei-
lich mit diesen nicht zu vergleichenden, aber
verhältnismässig doch sehr beachtens-
werten Producte des Geisteslebens der
späteren Zeit und der Gegenwart übersehen
oder allzu gering geschätzt. Ausserdem
bereitet das Isländische mehr Schwierig-
keiten für sein Verständnis als jede andere
germanische Sprache, und für das Neu-
isländische, das fast doppelt soviele Wörter
besitzt als das Altisländische, fehlen sogar
noch ausreichende lexikalische Hilfsmittel.

Es ist richtig, die Isländer der späteren
Jahrhunderte sind kaum mehr ein Schatten
ihrer kräftigen Vorfahren. Mit dem Ver-
luste seiner staatlichen Freiheit und Un-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 452, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0452.html)