Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 453

Isländische Cultur und Literatur der Gegenwart (Poestion, Josef Calasanz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 453

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POESTION: ISLÄNDISCHE CULTUR UND LITERATUR DER GEGENWART.

abhängigkeit in den Sechzigerjahren des
XIII. Jahrhunderts ist das Volk infolge
der harten Bedrückung durch die dänische
Herrschaft mit ihrer verkehrten Handels-
und Aussaugepolitik, sowie durch ver-
heerende Seuchen und Elementarereignisse
(Erdbeben, Ausbrüche der Vulcane, Meereis-
blockaden) von Jahrhundert zu Jahrhundert
immer mehr verarmt und auch geistig
erschlafft, und erst nachdem es in unserem
Zeitalter wieder die Handelsfreiheit (1854)
und eine mit einer gewissen politischen
Selbständigkeit verbundene Verfassung
(1874) errungen, begann es abermals zu
erstarken, und ein neuer oder vielmehr
der alte Geist regt sich wieder und be-
thätigt sich mit Erfolg auf den ver-
schiedensten Gebieten auch geistigen
Schaffens. Ja, der Durchschnittsgrad der
Bildung der Isländer ist seit langem sogar
höher als der des gemeinen Mannes in
Deutschland, von anderen als hochcivili-
siert geltenden Ländern nicht zu sprechen,
und das Geistesleben dieser Hyperboräer
bietet dabei so ungewöhnliche und inter-
essante Erscheinungen dar, dass es sich
wohl verlohnt, einige Blicke darauf zu
werfen.

Was vorerst den Volkscharakter der
Isländer betrifft, so ist dieser von den
Reisenden, die die Sprache nicht ver-
standen und daher mit den Eingeborenen
nicht verkehren konnten, ganz unrichtig be-
urtheilt worden. Der Isländer ist nicht ernst,
feierlich, zurückhaltend, misstrauisch u. s. w.,
sondern, wie Heusler ihn so richtig schil-
dert, eher sanguinisch: aufgeweckt, be-
weglichen Geistes, ein guter Gesellschafter,
mit reichem Humor begabt, spottlustig;
er lacht gern, er spricht viel, schnell und
gut. Er ist auch im allgemeinen nicht
das, was uns als bauernhaft vorschwebt.
Er hat nicht das dumpfe Behagen, die
begrenzte, naive Gemüthlichkeit. Er ist fein
constituiert, nervös; er ist zartfühlend,
empfindlich; er will mit Rücksicht ange-
fasst sein und verträgt Widerspruch und
Tadel nicht leicht; dass Isländer nach
oberbairischer Art sich rauften, wäre un-
denkbar. Allerdings hat der Isländer auch
nicht die robuste Arbeitskraft und Arbeits-
gewöhnung anderer Bauernvölker. Es
fehlt die Stosskraft, das energische Zu-
greifen, die ruhige Betriebsamkeit. Es

liegt etwas Aristokratisches im Charakter
der Isländer, und dabei kann man sich doch
kaum ein demokratischeres Volk denken,
als sie es sind; sie kennen fast keine
Standesunterschiede: keinen Geburtsstand,
keinen Berufsstand, keine politischen
Standesvorrechte und kaum auch Bildungs-
grenzen.

Von der hochentwickelten Cultur der
Isländer zeugt zunächst schon deren un-
gewöhnliche Fürsorge für das Unter-
richts
- und Bildungswesen. Das kleine
Volk von 70.000 Seelen hat über 20 Volks-
schulen; da aber der grösste Theil der Be-
völkerung auf den einzelnen, von der Kauf-
stadt an der Küste wie von einander zumeist
weit entfernten Höfen im ganzen Lande zer-
streut ist, erhalten die Kinder häufig Privat-
unterricht zu Hause und es durchziehen
ausserdem über 150 Wanderlehrer die
riesige Insel, so dass jedes Kind lesen,
schreiben und rechnen lernt. Mittelschul-
bildung wird durch ein vorzügliches Gym-
nasium zu Reykjavik, wo ausser Isländisch,
Lateinisch, Griechisch und sämmtlichen
Realien auch Dänisch, Englisch, Deutsch,
Französisch gelehrt wird, sowie durch
zwei Realschulen, Hochschulbildung durch
ein Priesterseminar und eine medicinische
Anstalt, verschiedenartige Fachausbildung
durch ein Lehrerseminar, eine Handels-
schule, vier Landwirtschaftsschulen, eine
nautische Schule u. s. w. vermittelt. Über-
dies hat Island noch drei besondere
Mädchenschulen. Philologie und Juris-
prudenz, sowie die übrigen Hochschul-
disciplinen müssen in Kopenhagen oder
im Auslande studiert werden. Nicht alle,
die das Gymnasium oder eine Realschule
absolviert haben, gehen jedoch an eine
Hochschule oder erstreben eine staatliche
Anstellung; gar manche wählen den
bäuerlichen oder einen sonstigen, mindere
Bildung erfordernden Beruf. Solche ehe-
malige Zöglinge des Gymnasiums heissen
dann ihr Leben lang »stúdentar« (Stu-
denten). Der Reisende ist daher so oft
verblüfft, in seinem schlichten Hauswirte
oder Führer einen Mann von ungewöhn-
licher Bildung zu finden. Doch gibt es
auf Island auch genug Leute ohne Mittel-
schulbildung, die durch ihr vielseitiges,
auf autodidaktische Weise erworbenes
Wissen unser Erstaunen erregen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 19, S. 453, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-19_n0453.html)