Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 493

Das Malen (Segantini, Giovanni)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 493

Text

DAS MALEN.
Von GIOVANNI SEGANTINI (Maloja im Engadin).

Jene Wahrheit, die ausser uns steht
und bleibt, ist nicht Kunst; sie hat und
kann keinerlei Kunstwert haben; sie
ist und kann nichts anderes sein als
blinde Naturnachahmung, daher ein-
fache Wiedergabe in der Materie. Doch
die Materie muss vom Gedanken durch-
arbeitet sein, um sich auf die Stufe
einer dauerhaften Kunstform emporzu-
schwingen.

Die Kunst muss dem Geiste des
Eingeweihten neue Empfindungen offen-
baren; die Kunst, die den Beobachter
gleichgiltig lässt, hat keine Daseins-
berechtigung. Die Suggestibilität eines
Kunstwerkes steht im Verhältnis zur
Kraft, mit der es vom Künstler im
Momente der Conception empfunden
wurde, und diese im Verhältnis zur
Feinheit, ich möchte sagen: Reinheit
seiner Sinne. Dank ihrer prägen sich
die leichtesten und flüchtigsten Ein-
drücke seinem Gehirne intensiver und
sicherer ein und bewegen, befruchten so
den überlegenen Geist, der sie zu einem
Ganzen zusammenfügt: hier findet nun
die Arbeit statt, die das künstlerische
Ideal in lebendige Form umsetzt.

Um diese ideale Vision während
der Ausführung des Kunstwerkes zu
erhalten, muss der Künstler all seine
Kräfte ins Treffen führen, damit die
ursprüngliche Energie fortbestehe; alles
muss eine Vibration seiner Nerven sein,
dahin gerichtet, das Feuer zu nähren,
das Bild durch stete Heraufbeschwörung
lebendig zu erhalten, damit der Gedanke
nicht zerfliesse oder abschweife, der
Gedanke, der auf der Leinwand Form
und Leben annehmen und das Kunst-
werk schaffen soll, das geistig indi-
viduell und körperlich wahr sein wird;
nicht von jener äusserlichen, oberfläch-
lichen oder conventionellen Wahrheit,
die das Gepräge der gewöhnlichen
Kunst ist, sondern von jener, die, alle
Schranken der Linien- und Farben-
oberflächlichkeit überschreitend, der

Form Leben und der Farbe Licht zu
verleihen weiss.

Wir sehen also: Hier ist die Natur!
Sie tritt in die Seele ein und hat an
dem Gedanken theil. Der Pinsel gleitet
über die Leinwand und gehorcht; er
zeigt das Beben der Finger, in welchen
sich alle Nervenschwingungen sammeln;
es entstehen die Dinge, Thiere, Personen
und nehmen bis in die kleinsten Theile
Form, Leben, Licht an. Das heilige
Feuer der Kunst lebt im Künstler und
erhält ihn in einer Geistesspannung,
jener Bewegung, die er seinem Werke
mittheilt. Durch diese Bewegung ver-
schwindet die mechanische, ermüdende
Arbeit des Künstlers, und das voll-
kommene, aus einem Stück gegossene,
lebendige, reich empfundene Kunstwerk
ersteht: Es ist die Incarnation des Geistes
in der Materie, es ist Schöpfung.

Der Schauplatz erhellt sich, die
Flächen weichen, die Figuren bewegen
sich, gewinnen Leben; die fieberhafte
Leidenschaft, die der Künstler empfand,
strahlt aus seinem Werke und theilt
dem Beobachter die gleiche Bewegung
mit: Alles lebt in wahrem, empfundenem,
zuckendem Leben.

Dies sollte das Ideal sein, das jeder
Künstler in sich zu suchen hätte, das
jedem nicht alltäglichen Kunstwerke das
Gepräge geben sollte. Gewiss werden
nicht Alle ihrem eigenen Werke einen
gleichen Grad von Sensibilität verleihen
können. Ich sagte es bereits: Dies
steht im Verhältnis zur Tüchtigkeit
und Fähigkeit der Seele und Empfind-
samkeit der Nerven, welche jener die
Empfindung vermitteln und erhalten.

Der Instinct, die Kraft, der Wille,
die von dem in der Seele gezeugten
Gedanken besiegt werden, gehorchen
und handeln in ihrem Sinne; so be-
ginnen wir, indem wir ein Kunstwerk
schaffen, unsere Seele, und manchmal
auch die der Anderen, zu veredeln und
zu vervollkommnen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 493, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0493.html)