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Aus dem gelobten Lande im Osten,
dem Lande der Sehnsucht, wo die Sonne
der Erkenntnis golden leuchtet, wo die
heiligen Wasser der Reinheit rauschen
und die Palme des Friedens steht, erklang
dem Pilger die erhabene Stimme Buddhas
und sprach:
»Blicke umher und betrachte das
Leben!* Alles ist vergänglich und nichts
besteht. Du siehst Geburt und Tod,
Wachsthum und Verwelken, Verbindung
und Trennung. Die Herrlichkeit der Welt
ist wie eine Blume; sie steht am Morgen
in voller Blüte und welkt in der Hitze
des Tages. Wo Du auch hinblickst, siehst
Du ein Rennen und Ringen, ein eifriges
Jagen nach Lust, eine feige Flucht vor
Schmerz und Tod, einen Jahrmarkt, auf
welchem Täuschungen feilgeboten werden
und lodernde Flammen brennender Be-
gierden. Die Welt ist voll von wechseln-
den Erscheinungen und Verwandlungen.«
Da sah der Jünger mit dem Auge
des Meisters die Nichtigkeit des Daseins
und der erhabene Lehrer las in seinem
Herzen die Frage:
»Gibt es nichts Dauerndes in der
Welt? Ist in diesem allgemeinen Wirbel
kein Ruheplatz, wo das geängstigte Herz
Frieden finden kann? Gibt es nichts, das
von ewiger Dauer ist?«
Als der Gebenedeite die Seele des
Jüngers so bekümmert und von Sehnsucht
nach Erlösung erfüllt sah, verkündete er
ihm das Evangelium der Wahrheit und
sprach:
»Die Wahrheit ist ewig; sie kennt
weder Geburt noch Tod; sie hat weder
Anfang noch Ende. Rufe die Wahrheit
an, o Sterblicher! Lasse die Wahrheit
von Deiner Seele Besitz ergreifen. Die
Wahrheit ist der unsterbliche Theil der
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Seele. Reichthum besteht im Besitze der
Wahrheit und ein Leben in Wahrheit ist
wahre Glückseligkeit. Die Wahrheit ist
eine lebendige, fürs Gute wirkende Kraft,
unzerstörbar und unbesiegbar. Lasse die
Wahrheit in Deiner Seele offenbar werden
und verbreite sie unter den Menschen,
denn die Wahrheit allein ist der Erlöser
von Sünde und Trübsal. — Freue Dich
der frohen Botschaft.«
Wahrheit ist Wirklichkeit. Wirklich
ist, was in sich selbst ewig besteht.
Ewiges Bestehen hat nur das Unent-
standene. Das Unentstandene wird Gott
genannt. Gott ist das unbegreifliche, nicht
offenbare, höchste Eine, das allen Dingen
als ihr wirkliches Selbst zugrunde liegt,
sie durchdringt und belebt. Das göttliche
All-Selbst ist der Urgrund aller Dinge
der offenbaren Erscheinungswelt und sein
eigener Urgrund. Allen Erscheinungen
liegen Ideen zugrunde, die ihr Bestehen
einer untheilbaren einheitlichen Kraft und
Wirklichkeit verdanken, die als Ding an
sich, Wahrheit, Atma, Brahm, der
Herr, das Gute oder Gott in den Reli-
gionen aller Zeiten und Völker verehrt
wird. Das göttliche Wesen aller Dinge ist
auch das wahre, über alles Sondersein
erhabene Selbst des Menschen. Das Ziel
der Entwicklung der Menschheit wie des
ganzen Universums ist die Erkenntnis der
Wahrheit, das Erlangen des All-Bewusst-
seins der göttlichen Wirklichkeit, die das
Selbst alles Seienden ist. Erst dann, wenn
die Seele allem Vergänglichen entsagt hat
und im Unvergänglichen lebt, wird ihr
Frieden und Erkenntnis, Freiheit und Er-
lösung zutheil. Diese Lehre ist der Inhalt
aller religiösen Vorschriften des Ostens
und Westens, von grauer Vorzeit her bis
auf den heutigen Tag.
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