Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 497

Das Evangelium der Wahrheit Die Ästhetik Tolstois (Böhme, EdwinHeidenstam, Verner von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 497

Text

HEIDENSTAM: DIE ÄSTHETIK TOLSTOIS.

Erkenntnis Gottes — bei den Alten
Guosis, bei den Indiern Atma Vidya
genannt — erlangt, gleicht dem Eisstücke,
das, seine beschränkte Bewusstseinsform
opfernd, im Ocean schmilzt und, dadurch
selbst zum Ocean geworden, nun vom

heissen Sande der Tropen bis zur nordi-
schen Eiswüste allbewusst brandet.

Den Eigenwillen aufgebend, der sie
ins Dasein führte, geht die Seele auf im
Sein wie der Funke im Licht.

Das ist das Evangelium der Wahrheit.

DIE ÄSTHETIK TOLSTOIS.
Von VERNER VON HEIDENSTAM (Stockholm).

In seinem Verlangen, von jedermann
mit Leichtigkeit verstanden zu werden,
liebt es Tolstoi, seine Definitionen und
Beweise bis zu einem Grade zu verein-
fachen, dass sie oft gar nichts erklären
oder erhärten. Sein Gedanke streicht
gerne längs der Erde hin und setzt eine
Ehre darein, sich absichtlich die Flügel
zu beschneiden. Er hat mehr Sinn für
das Naive als für das Entwickelte, mehr
für den Samen als für die Blüte. Er be-
trachtet mit Vorliebe die grobbehauenen,
soliden Ecksteine unter dem Tempel, hebt
aber nur widerstrebend das Antlitz dem
Dachstuhle zu und dem Thurme mit den
frei jubelnden Glocken. Er gehört bei all
seiner Genialität zu jenen Jetztzeitmenschen,
die beständig grübeln, nicht aber eine
Freude, einen wahren Gottesdienst in des
Ewigen Namen in ihrem Denken finden,
sondern viel eher eine verlorene Mühe.
Er möchte die Wahrheit so nahe zur
Hand haben, dass jedermann das Auge
bloss halb zu öffnen brauchte, um sie zu
sehen und zu erkennen. Er hat kein liebe-
volles Verständnis für jenes grosse Gesetz
des Weltmechanismus, das jegliche Wahr-
heit im Verborgenen liegen lässt, auf dass
sie nur durch unerhörte Anstrengungen
und Opfer gefunden werde.

Und so kommt es, dass er jetzt
(vergl. seine Abhandlung: »Was ist die
Kunst?«) nahe daran ist, den hohen Zielen,
die er erreichen will, geradenwegs den
Rücken zu kehren. Mit vollem Rechte
und überzeugendem Ernste betont er,
die religiöse Kunst sei die einzige, in
deren Dankesschuld uns zu fühlen wir
thatsächlich Grund hätten. Die Frage

lautet also nur: Was ist religiöse Kunst?
Darauf antwortet er, ohne es selbst zu
wissen: Ei, die weltliche! Unter Religion
versteht er hauptsächlich eine blosse
Sittenlehre, deren einfache Gebote dem
unwissendsten russischen Feldarbeiter fass-
bar sind. Mit anderen Worten: was er
Religion nennt, ist nicht Religion, sondern
deren praktische Anwendung auf das ein-
zelne und allgemeine Leben. Hieraus folgt
der verblüffende Schluss, dass ein Dickens,
ein Dumas — und warum nicht auch die
amerikanischen Humoristen? — als religiöse
Künstler betrachtet werden könnten, die
speculativer Angelegten und schwerer Zu-
gänglichen dagegen zu verwerfen seien.
Dem Wesentlichen in der Religion räumt
er keinen Platz ein, jenem Unfassbaren,
dem wir uns Jahrtausend um Jahrtausend
eben durch die Versinnlichung der Kunst
zu nähern versucht, und zwar nicht aus
Liebe zu dem Sinnlichen, sondern darum,
weil das Sinnbild unser menschliches
Mittel gewesen ist. Den Inhalt der Religion
an Welterklärung lässt er also beiseite.
Man kann nicht mit gröberer Hand die
Stellung der Kunst zu dem Religiösen
berühren.

Was anders als das hohle, weltliche
Spielzeug für Beschäftigungslose — Salon-
lieder, Lustspiele, Narretheien, Gedanken
in billiger Ausgabe — ist es, das von allen
am ehesten begriffen wird? Tolstois Lehre
zufolge sollte sich die Kunst nur noch
mehr verflachen, statt sich zu vertiefen.
Oder ist es uns nie aufgefallen, wie die
populärsten und gefeiertsten unter den
Künstlern sich mit einemmale einsam
fanden, als sie ihre muntere Gewandtheit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 497, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0497.html)