Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 498

Die Ästhetik Tolstois (Heidenstam, Verner von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 498

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HEIDENSTAM: DIE ÄSTHETIK TOLSTOIS.

fortwarfen und sich dem Ernste zuwandten?
Das würde eine prächtige religiöse Kunst
geben, wenn ihr nicht gestattet wäre, in
schwerfasslichere Themen einzudringen als
in der übrigens schönen Erzählung »Onkel
Toms Hütte«, und ihre Wertbestimmung
einer allgemeinen Abstimmung unserer
Zofen, Holzknechte und Häusler unter-
läge — indes die sieche gebildete Minder-
zahl, den Hut vor dem Gesichte, scheu
und bettelnd abseits stünde! Dass Dante
in diesem Falle gehängt würde, unterliegt
keinem Zweifel. Sicherlich spricht ein
pompöses Ausstattungsstück den russischen
Bauer tiefer an als ein ernsthaftes Drama,
aber dies beweist nicht, dass »Der Courier
des Czaren« oder »Madame Sans-Gêne«
gute, religiöse Kunst sind. Wenn ein
russischer Bauer einem der mittelalter-
lichen christlichen Festspiele noch leb-
haftere Aufmerksamkeit entgegenbringt,
so rührt dies daher, dass die biblischen
Legenden fast seine einzige Kenntnis des
Vergangenen bilden. Tolstoi aber verleiht
der Erzählung von Josefs feilen Brüdern
und Potiphars Weib aus dem einen
Grunde, weil sie von einem russischen
Bauer, einem Neger, einem Kinde auf-
gefasst werden kann, einen Wert an
guter, religiöser Kunst, welcher verloren
gehen würde, sobald die Erzählung sich
um einen anderen, nur einer gebildeten
Minderzahl verständlichen Stoff bewegte.
Halb entschuldigend nennt er die Hellenen,
weil ihre Kunst volksthümlich war und in
ihrer Verherrlichung irdischer Schönheit
und irdischen Glückes mit ihrer Religion
zusammenfiel. Immerhin dürfte die Volks-
thümlichkeit der hellenischen Kunst kaum
grösser gewesen sein als — sagen wir —
die des heutigen Paris. Im Gegentheill
Niemals sind sowohl Künstler als Forscher
von einem grösseren Publicum umgeben
gewesen als eben jetzt, wiewohl dies nicht
ihr Verdienst, sondern die Folge der
steigenden allgemeinen Bildung ist. Diesem
stetig sich weitenden Fassungsvermögen
des Volkes widmet Tolstoi kaum einen
Gedanken, und doch sollte gerade er der
Mann sein, um zu verstehen, was wir
schon der Aufklärung schuldig sind. Die
Aufklärung ist es, die dereinst Krieg und
Revolution unmöglich machen wird. Dass
nach nun hundert Jahren eitel auf-

rührerischer Philosophie unsere Städte
nicht in Flammen stehen und unsere
Strassen nicht mit Ermordeten bedeckt
sind, rührt nicht daher, dass — wie etliche
meinen — Socialismus und Anarchismus
im Gegensatz zur französischen Revolution
es verschmähen, ihrer Anschauung eine
ideell hinreissende Farbe zu geben, sondern
es ist eine Wirkung der Aufklärung. Kein
Buch und keine Lehre sind für Den ge-
fährlich, der hinlänglich viele Bücher und
Lehren kennen gelernt, um in der Sache
mit mehreren Zeugen zu richten.

Gebt dem Volke nach und nach das
Beste jener Aufklärung, welche noch
Besitz der Minderzahl ist, und es wird
keine zertretene oder gefährliche Kaste
mehr geben. Dann vielleicht wird die Zeit
da sein, von einer hohen religiösen Kunst
für alle zu träumen, wenn schon der
Traum fast immer bei einer schönen
Utopie stehen bleiben wird. Es gibt nicht
zwei Menschen, die vollständig gleich
leben, denken oder fühlen, und darum
wird es auch niemals zwei Menschen
geben, bei welchen ein Kunstwerk voll-
kommen denselben Eindruck hervorbringt.
Die Einbildungskraft des Einen ist leicht
beweglich, die des Anderen nicht. Der
Eine ist stolz und wird in dem Stolzen
etwas Erhabenes finden, der Zweite
demüthig, der Dritte einfältig, der Vierte,
zufällig eine trockenere und gröbere Natur,
wird in dem Drastischen Geist und
Muth erblicken. Dagegen werden Zeiten
kommen, wo das Menschengeschlecht gar
manchem ehedem starken Triebe ent-
wächst, und wo all das Talent, das bisher
auf Lobpreisung oder Verdammung der
Liebe und der ganzen inhaltslosen
Plattheit des Geschlechtstriebes verbraucht
wurde, sich in geistigen Aufgaben, in
Liebe zu jener Gerechtigkeit, die des
Daseins Ziel und daher mehr als die
Menschen selbst ist, sammeln kann.

Theilweise Gerechtigkeit schenkt Tolstoi
der Kunst der Römer, die zu des Volkes
Grösse und Wohlfahrt beitrug, und der
Kunst der Chinesen, die eine ergreifende
Ehrfurcht vor den entschlafenen Vätern
einprägte. Bei der Renaissance angelangt,
gilt die Entschuldigung für den heidnischen
Zug der Kunst — dass das religiöse
Leben zu jener Zeit eine Umgestaltung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 498, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0498.html)