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in derselben Richtung erlitt — freilich
nicht länger. Gleichwohl äussert Tolstoi
selbst an einer Stelle die ehrlichen Worte:
»Unendlich wechselvoll und stetig neu
sind die Gefühle, die aus dem religiösen
Bewusstsein entspringen, denn dieses ist
jederzeit der Ausdruck des neuen, in
Bildung befindlichen Verhältnisses zwischen
dem Menschen und der umgebenden Welt«.
Noch weniger nimmt er wahr, dass gerade
in der Kunst der letzten Decennien nicht
bloss das philantropische, sondern auch
das religiöse Element stark vorherrschend
ist, bald als Christenthum, noch öfter als
Pantheismus und zuweilen in einem
Atheismus, welcher nur eine Umschreibung
ist für eine religiöse Anschauung, wofern
man unter Religion vor allem Bruderliebe
und Güte verstehen will. Es ist ebenso
atheistisch, zu sagen: Gott ist die Liebe,
wie: Gott ist das Gesetz der Schwere,
denn in beiden Fällen hört er auf, ein
Gott zu sein. Ein Gott ist ein Wesen.
Tolstoi entrollt ein gelungenes Bild
jener Arbeiter, deren Tagewerk es ist,
Theaterdecorationen zu hissen und Rampen-
lichter anzuzünden; wenden wir jedoch
die Nützlichkeitslehre in allem anderen in
gleicher Strenge an, so bleibt zuletzt nur
mehr der Bäcker, der Schneider und der
Schuster übrig, deren Wirksamkeit eine
völlig berechtigte ist. Tolstoi behauptet,
nur das Aussprechen neuer Gedanken
könne von Nutzen sein; sein eigener
Rousseauismus aber ist ebenso alt wie
das Jahrhundert und wurde uns Schweden
in fast denselben Ausdrücken bereits in den
Achtzigerjahren vorgeführt. Seine Batte-
rien schleudern keine mörderischen Projec-
tile, sondern ländliche Rüben und Kartoffeln,
die in dem Augenblicke, wo sie treffen,
selbst zerrieben werden. Es ist betrüblich,
im Jahre 1898 noch hören zu müssen,
dass die Gebildeten nichts als ein Haufe
schädlicher Siechlinge seien. Welche sind
also dann die Gesunden und Nützlichen?
Die Bauern und Handwerker. Nun wird
aber der Zeitpunkt nicht lange auf sich
warten lassen, wo die Gebildeten Maschinen
an Stelle der Handwerker stellen und mit
chemischen Präparaten die aus Leichen-
fleisch und Pflanzen bestehende Nahrung
ersetzen werden, deren Herbeischaffung
soviel Elend gekostet. Sicherlich kann diese
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Umgestaltung innerhalb eines Menschen-
alters vor sich gehen. Mit schwindelnder
Raschheit wird dann die Bildung der
Minderzahl sich auf alle verbreiten. Wohlan
denn, verwandelt sich das ganze Menschen-
geschlecht hiedurch in einen Haufen un-
nützer Siechlinge? Wenn die Bildung nicht
alle verdirbt, wie kann sie dann die Minder-
zahl verderben? Oder sollen die Menschen
ohne Ende Deiche graben und Stiefel
machen, um nicht böse genannt zu werden?
Tolstois Selbstbewusstsein — er hat ja
Stiefel machen gelernt — trübt ihm den
Blick, und dort, wo er derartige Themen
berührt, muss man sich mehr als einmal
fragen, ob er nicht selbst einer der anti-
religiösesten Realisten unserer Zeit ist.
Dass er der unmusikalischeste ist, hat er
längst bekundet, denn seinen Erfahrungen
nach ist und bleibt die Musik kaum mehr
als ein sinnliches Reizmittel, das zur Ver-
derbnis führt. Er hat also niemals selbst
empfunden, wie die Musik Sehnsucht nach
erhabenen Thaten entzündet oder zu rein
philosophischem Denken anfeuert? Und
waren nicht Religion und Musik jederzeit
untrennbar? Es gibt keine Hütte so niedrig,
dass, wenn einige arme Teufel sich darin
zu einer Andachtsübung versammelten,
sie nicht auch die Musik zu Gaste bäten. Will
Tolstoi nun wirklich die Ansicht vertreten,
dass die aus der Andachtsmusik der Antike
und des frühesten Christenthums stammende,
klangarme und reglementierte Messe noth-
wendig zufolge ihrer Einfachheit einem
Palestrina vorzuziehen sei, oder dass die
von Geistlichen und Burgrittern gedichteten
»Volkslieder« alle Möglichkeit en einer religi-
ösen Tonkunst so erschöpft haben, dass eine
compliciertere Natur wie die Beethovens
nicht das Recht hätte, sich eines complicier-
teren Ausdrucksmittels zu bedienen?
Muss demnach einerseits dies subjective
Hinschleudern so alter und abgebrauchter
Behauptungen von Seite eines Tolstoi er-
zürnen, so birgt doch seine Lehre daneben
viel Überwältigendes und Mächtiges, dessen
Beachtung einem Künstler zugute kommen
kann. Der Künstler beherrscht das
Einbildungsleben seiner Zeit. Seine
Macht ist also nahezu ohne Grenzen,
ebenso aber ist es auch seine Verant-
wortung, und niemand verdient, so wie er,
das härteste Urtheil über seinen todten
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