Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 500

Die Ästhetik Tolstois Enrico Corradini (Heidenstam, Verner vonCippico, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 500

Text

CEPPICO: ENRICO CORRADINI.

Staub, wofern er sein und seines Volkes
Gewissen hintergangen hat. Blicken wir
auf die grossen Künstler zurück, die seit
der Zeit der Encyklopädisten den tiefsten
Einfluss geübt, so will es uns scheinen,
als hätte das Sehnen nach dem weit-
entrückten Erhabenen allezeit ihre Thaten
und Werke geleitet. Selbst wo diese zeit-
weise verderblich scheinen konnten, haben
sie — absichtlich oder unabsichtlich — in
den meisten Fällen einen Kampf gegen ein
noch grösseres Unheil, gegen eine Heuchelei
oder ein Vorurtheil in sich gefasst. Auch
wo dies nicht zutrifft, erweist es sich,
dass die Lebenssumme selbst so selbst-
süchtiger Künstler wie Goethe und Byron
der Allgemeinheit nicht zum Schaden,
sondern zum Frommen gereicht hat. Man
darf die Frage aufwerfen, ob wir nicht
unter der Bezeichnung Genie instinctiv
eine intellectuelle Begabung verstehen,
welche — wenn auch bisweilen auf langen
Umwegen — einen Gewinn, eine Hebung
des Zeitgeistes mit sich bringt. Es gibt
kein grosses Genie aus der Renaissance,
dem Mittelalter und Alterthum, das sich
nicht, wenn auch scheinbar lange ver-
derbenbringend, zuletzt als ein noth-
wendiges und daher nützliches
Glied
der Kette erwiesen hätte. Jeder
geniale Gedanke muss unbestreitbar in
irgend einer Beziehung etwas verschieben,
was zuvor über diesen Gegenstand gesagt
wurde, und dadurch Nutzen bringen. In
dieser Weise ist auch Tolstois Kunstlehre,
wiewohl zum grossen Theile weder auf

etwas Neues noch Lehrreiches gerichtet,
in einigen Punkten genial und dadurch
von heilsamem und züchtigendem Einflusse.
Immerhin bestätigt seine Philosophie allzu-
sehr das Unvermögen des Subjectivismus,
sich auf weitumfassenden, allgemeinen
Feldern zu bewegen, auf denen ein ruhiges,
objectives Denken weit klarer sieht. Im
Zusammenhange hiemit weckt auch seine
Schrift die Ahnung, dass der Subjectivismus
in unserer Zeit bereits seine besten Pfeile
verschossen hat, und dass die Philosophie
bald genöthigt sein dürfte, zu einer mehr
generalisierenden und objectiven Methode
überzugehen, falls sie Gehör und Glauben
finden will.

Die lateinischen Völker werden Tolstoi
nicht verstehen, kaum die deutschen; zu
uns Skandinaviern aber spricht er wie zu
Seelenverwandten. Mit dem Ernste eines
Propheten treibt er die Händler aus dem
Tempel, und oft trifft seine Geissel jene
Eitelkeit, Selbstbewunderung, Hohlheit und
Narrethei, die auf dem Gebiete der Kunst
ihre Seiltänze aufführt. Er reisst der Nach-
äffung, der Geziertheit und Effecthascherei
die Maske ab und zeigt die Hohlheit
niedriger Themen, haarsträubender Schil-
derungen und spannender Intriguen. Vor
allem aber mahnt er, dass die Aufgabe
der Kunst nicht darin bestehe, die Be-
schäftigungslosen zu zerstreuen. Es ist
dasselbe, was beinahe jeder ehrliche
Künstler aller Zeiten erstrebt und ge-
lehrt hat.

ENRICO CORRADINI.
Von ANTON CIPPICO (Graz).

In keiner Zeit je zuvor hatten wir
bewegtere und wechselvollere Lebens-
äusserungen als in unserem Jahrhundert,
das uns verwirrt und verfolgt gleich
kleinen Splittern in einem heftigen Wirbel-
wind; nie waren die äusseren Dinge in
einem augenscheinlicheren Widerspruch mit
dem kräftigen und tiefen Leben der
Geister, als eben in unserer doppelsinnigen

Ära der allgemeinen Krisen. Und wie in
unseren Gemüthern, so geht es auch in
den äusseren Kundgebungen der Natur
und Kunst; es scheint, dass die ursprüng-
lichen harmonischen Linien sich unter-
einander verschlungen, sich zusammen-
gewunden haben, so dass sie die Blüten-
stiele und Trebern für die lösende Kraft
der Schwertlilie bilden; die letzte Linie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 500, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0500.html)