Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 501

Enrico Corradini (Cippico, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 501

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CIPPICO: ENRICO CORRADINI.

— jene, welche die modernen Kritiker
gerne symbolisch nannten, und die sich
heute so geschmeidig den edelsten orna-
mentalen Motiven leiht — wurde dem
leidenschaftlichen und wirbelgleichen Pro-
file des Serpentinentanzes entnommen. Diese
Entwicklung der geraden Linie — die
in der Natur thatsächlich nicht existiert
— zu einer körperlicheren und bestimm-
teren Harmonie ist das klare und sichere
Anzeichen dessen, was sich heute in der
Kunst emporringt: eine gebundene und
stetige Krise in jenem grossartigen Kampfe
um das Gleichgewicht zwischen Form
und Ideengehalt, zwischen Eindruck und
Ausdruck.

Das sicherste Zeichen dieses Fort-
schreitens zu neuen und vollkommeneren
Harmonien ist uns in dem erneuten
Streben nach dionysischem Cultus

gegeben; schon in der Oxforder Univer-
sität und im Theater von Oranien wurden
erste Versuche gemacht, die wunderbaren
tragischen Feste des alten Griechen-
landes
feierlich und andächtig wiederzu-
geben; Gabriele d’Annunzio und Eleonora
Duse feierten später in Italien mit grossen
Hoffnungen den Traum eines lateinischen
Theaters
, das sich an den heiligen Ufern
des Albanersees erheben sollte.

Der Traum war ebenso schön, wie
gewagt. Denn ausser den technischen
Schwierigkeiten stellte sich ihm der ab-
solute Mangel einer dramatischen National-
literatur entgegen, wie sie die Spanier,
die Franzosen und die Deutschen haben.
Nach Goldoni und Alfieri waren fast
alle dramatischen Versuche bis auf die
jüngsten so minderwertig, dass ihnen
ausser dem Stempel des Nationalen auch
jedwede edle Kunstabsicht zu fehlen schien.
Es war daher nothwendig, das italienische
Drama mit strengen und reinen Absichten
zu beginnen; später, wenn wenigstens
irgend eine Frucht gereift wäre, würde
man, hiess es, die lateinischen Architekten,
Bildhauer und Maler rufen, damit sie die
Mauern des herrlichen Altares der Latinität
mit neuen Blumenlinien und lenzesgleichen
Farben schmücken.

Gabriele d’Annunzio begab sich bald
ans Werk — und in weniger als zwei

Jahren war es ihm vergönnt, vier drama-
tische Arbeiten zu vollenden und zu ver-
öffentlichen; es sind dies bekanntlich »La
Città morta
« (im Pariser Renaissance-
theater unter dem Titel »La Ville morte»
von Sarah Bernhardt aufgeführt), »La Gio-
conda
«, »Il Sogno di un mattino di
Primavera
« und »Il Sogno di un
tramonto d’autunno
«.* Eleonora Duse
und Ermete Zacconi haben vor kurzem
auf ihrer künstlerischen Tournée eines der
obgenannten Dramen gemeinschaftlich mit
»La Gloria« aufgeführt, einem Trauer-
spiel, das d’Annunzio in einer zauberischen
Einsiedelei zu Korfu vollendet hat. Diese
Tournée der beiden grossen italienischen
Tragöden bildete den ersten Kern des
lichtvollen Traumes, so dass mit ihr die
ersten Keime des idealen Theaters in
Albano emporgeschossen sind. Aber zugleich
mit dem fruchtbaren, herrlichen Werke
Gabriele d’Annunzios, der aus dem Ur-
typus des griechischen Theaters die har-
monischesten Linien und die Inspiration
gewann, entfalteten sich andere neue
dramatische Energien und erblühten in
den tastenden Gemüthern einiger junger
italienischer Schriftsteller.

Und von dem Werke eines der
kühnsten dieser will ich sprechen, das
im Teatro Niccolini in Florenz über
die Bühne gegangen und den ersten
Schritt bezeichnet auf dem Wege zur
Auffrischung des alten läppischen
Theaterplunders der italienischen
Literatur
.

Enrico Corradini lieferte eine heisse
Schlacht mit seiner »Leonessa«, eine
an Worten und Gedanken kühne Schlacht;
nie gab es auf dem modernen, italienischen
Theater ein Werk, das weniger der
crassen Unwissenheit der Schauspieler
schmeichelte, die an die niedrigsten Ge-
meinplätze in Dialog und Handlung ge-
wöhnt sind, nie ein Werk, das weniger
den krankhaften Neigungen und dem ver-
derbten Geschmack des Publicums ent-
gegenkam. Die Neuheit der Bilder, die
Vortrefflichkeit der Personen, die reinen
Linien der Handlung und die Frische
des Dialoges wirkten auf die Zuschauer
wie die glitzernde Lancette des Chirurgen,

* Vergl. »Wiener Rundschau«, 1899, Nr. 10, S. 237.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 501, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0501.html)