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In den mystischen Schriften des Morgen-
landes heisst es:
»Ehe Du Dich der ersten Pforte nähern
kannst, musst Du lernen, Deinen Körper
von Deinem Geiste zu trennen, den
Schatten zu zerstreuen und im Ewigen zu
leben. Zu diesem Zwecke musst Du in
allem leben und athmen, wie auch alles,
was Du siehst, in Dir athmet. Du musst
fühlen, dass Du in allen Dingen wohnst,
in allen Dingen, im Selbst.«*
»Der eine Herrscher ist das innere
Selbst alles Daseins, welcher eine Form
vielfältig macht; die Weisen, die ihn in
sich selbst schauen, sie und keine anderen
sind glücklich.«**
»Er (Gott) ist es, der die Erde, den
Himmel und das unbegreifliche Heiligthum
— die ewige Stille — erfüllt. Er ist es, der
in jedem Atome verborgen ist und durch
dasselbe offenbar wird. Alles, was Du siehst,
ist dem Wesen nach Er. Die Flamme des
Lichts und der Schmetterling — der, vom
Lichte angezogen, sich in die Flamme
stürzt — sind Er. Er ist die Rose (der
göttlichen Selbsterkenntnis) und die Nachti-
gall (des Gartens der Ewigkeit).«***
»Gehe aus dem Hause Deines Gemüths,
damit der Geliebte (Gott) darin wohnen
kann; denn die Begierden, die es jetzt be-
wohnen, sind Fremdlinge. Der Empfangs-
saal Deines Herzens ist nicht dazu bestimmt,
als Tummelplatz für Fremde zu dienen.
Der Engel kann nur hereinkommen, wenn
der Dämon hinausgeht. Du kannst von
den Geheimnissen des wirklichen Daseins
nicht das geringste begreifen, solange Du
Dich im Kreise der Täuschung und des
Scheines bewegst.Ǡ
Mit solchen Worten leiten die heiligen
Bücher des Orients den suchenden Men-
schen zur Verwirklichung seiner erhabenen
Bestimmung, die sich nach erlangter
Reinheit des Innern durch die Offen-
barung des göttlichen Lichtes der Wahr-
heit in der Seele erfüllt. Auch die religiösen
Schriften des Abendlandes verkünden das
Evangelium der Wahrheit.
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Die Bibel sagt (2. Cor. 4): »Gott,
der da hiess das Licht aus der Finsternis
hervorleuchten, der hat einen hellen Schein
in unsere Herzen gegeben, dass (durch uns)
entstände die Erleuchtung von der Er-
kenntnis der Klarheit Gottes in dem An-
gesichte Jesu Christi (unseres göttlichen
Ichs).« Das ist die »heimliche, verborgene
Weisheit Gottes« (Theosophia, s. 1. Cor.,
Cap. 2), die dem Apostel »von Gott geoffen-
baret wurde durch seinen Geist. Denn der
Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen
der Gottheit«.
Nicht durch sinnliche Wahrnehmung
und darauf gebaute Schlussfolgerungen
können wir die Wahrheit entdecken oder
ergrübeln, sondern sie offenbart sich durch
ihr eigenes Licht im Tempel der Seele,
wenn er geläutert und gereinigt ist. »In
dem Wesen der Seele«, lehrt der katholische
Mystiker Meister Eckhart,†† »können wir
Gott sehen und erkennen, und je mehr
der Mensch in diesem Leben dem Wesen
der Seele und seiner Erkenntnis nahe
kommt, desto näher ist er der Erkenntnis
Gottes. In Dir selber liegt die Wahrheit.
Niemand findet sie, der sie in äusseren
Dingen sucht.«
Dieselben religiösen Lehren finden wir
übereinstimmend bei allen Mystikern, bei
Thomas a Kempis, Theophrastus Para-
celsus, Jakob Böhme und Angelus
Silesius im Mittelalter, bei Eckarts-
hausen, H. P. Blavatsky und Franz
Hartmann in neuerer Zeit. Sie sind das
Evangelium der Wahrheit, das vom
Delphischen Orakel und von Sokrates
in das Wort gefasst ward: »Mensch, er-
kenne Dich selbst!«
Diese Selbsterkenntnis, die alle Räthsel
löst und das verschleierte Bild zu Saïs
entschleiert, ist nicht eine Analyse des
persönlichen Charakters des Menschen,
sondern das Erleben des göttlichen All-
Bewusstseins des ewigen, wirklichen Selbsts,
das, über alle Wesen erhaben, doch alles
in Liebe umfasst und die Liebe und Er-
kenntnis selbst ist. Die Seele, die diese
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