Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 503

Enrico Corradini (Cippico, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 503

Text

CIPPICO: ENRICO CORRADINI.

Linien weise Corradini einen Charakter
plastisch zu bestimmen, eine Situation
malerisch zu umgrenzen; das Wort fügt
sich seinen Kunstabsichten mit Energie
und Geschmeidigkeit. So deutet Laura
ihren stolzen löwenähnlichen Charakter,
ihre Sucht, unaufhörlich zu steigen, in
folgenden Worten an: »Ich habe mich
bemüht, meine Seele durch jedwede
Kenntnis zu bereichern, all ihre Fähig-
keiten zu erhöhen, sie zart und stark,
gefügig und unbezähmbar zu machen
und fähig, all die kleinsten zarten Dinge
und alle grossen zu empfinden! Darum
kann ich mich über meine Vergangen-
heit erheben wie eine Königin über den
Thron — — —.«

Von der Phantasie, die jederzeit ein
böser Leiter ihres Lebens war, sagt sie:

»Ich habe so sehr auf diesen bösen Geist
gehört, und er hat mir stets die schön-
sten und berückendsten Dinge gesagt!
Warum sollte ich ihn verjagen? Er hat
mir gesagt, dass ich unter meiner Ferse
alle Jene zertreten werde, die lachten,
als ich mich über einen Haufen Unflat
erhob, um ein wenig Sonne zu sehen,
alle Jene, die mich an den Kleidern zu-
rückzerrten und mir den Weg verstellten,
als ich mir von Fels zu Fels die Fusse
ritzte, um den Gipfel zu erklimmen!«

So also drückt Lauras Geschick jenes
Claudios und Demetrio Pusterlas. Und
der psychologische Contrast dieser drei
Personen wird in manchen Scenen von
bedeutender dramatischer Wirkung so
augenscheinlich, als ob die drei Gesichter
von drei verschiedenfarbigen Lichtern be-
strahlt würden.

Fast meisterlich verhängnisvoll weist
Laura, da sie Claudio zur Missethat treibt,
auf die entfesselten Naturkräfte. Wie ein
Halbgott kommt Paolo Emo beim wilden
Ausbruch der Elemente an; und Laura
sagt zu Claudio: »Rufe denn den Geist des
Sturmes, den Geist der menschlichen
Leidenschaften an! Und nicht feierlich,
nein, mit Hohn und Wuth, mit all den
Tönen, die gellend den Zorn Deines
Herzens aussprechen und sich mit diesem
Ausbruch der Elemente einen! Bete mit
mir, dass alle Kräfte Deines Wesens
wallen wie jene weisslichen Schaumwellen

am schimmernden Himmel, die sich
emporbäumen wie Felsen und unfassbar
sind wie die Luft! Bete mit mir, dass
Dein Gedanke rasch sei wie der Blitz,
furchtbar wie der Donner, wild wie der
Orkan! Bete mit mir, dass Deine Seele
wechselvoll sei wie das Meer und fest
wie die Erde in ihren Entschlüssen!«

Wer von den Modernen Italiens wagte
es je, in den Mund einer seiner Personen
eine so mächtige und feierliche Be-
schwörung der heiligen Naturkräfte zu
legen? Wem von den Modernen Italiens
war es je gegönnt, mit so viel Kraft die
tragische Grösse eines Sturmes zu er-
fassen? Ach, zu lange sind wir kurzsichtig,
sind unsere Seelen gleichgiltig gewesen!
Nun müssen wir Jungen die Seele allem
kräftigen Wehen der Natur und des Lebens
öffnen, das, wie nichts anderes, befruch-
tender Odem voller Licht und Poesie ist!
Wir müssen die kleinen Zeichen und die
grossen harmonischen Linien der Natur
in unsere Seelen versetzen und sie durch
die Thatkraft all unserer überströmenden
Energien in einen leuchtenden Fluss ver-
wandeln, der unser Leben wie ein lenz-
gleiches Ufer umgeben soll!

Kurzsichtige Kritiker haben behauptet,
dass die Personen der »Leonessa« un-
logisch handeln; ich möchte wissen, was
sie unter menschlicher Logik ver-
stehen und auch, was sie von Puck, dem
unvergleichlichen Puck des »Sommer-
nachtstraumes« denken. Ihren Aussprüchen
nach würde ich glauben, dass die wieder-
erweckte Titania mehr Liebe im Busen
hegt, als zu der Zeit, da sie beim Er-
wachen den Eselskopf umarmte!

Wenn wir heute vom Drama E. Corra-
dinis sprachen, so wollten wir den Wienern
das vielleicht tiefste und kräftigste Bühnen-
werk des modernen Italiens bezeichnen.

Wir wissen, dass Corradini — der in
Italien und Frankreich schon durch Romane
bekannt ist, die ihm mit einem Schlage
in der jungen italienischen Literatur den
ersten Platz neben Gabriele d’Annunzio
eroberten — die Absicht hat, in kurzer
Zeit zwei andere Tragödien zu schreiben:
»Kain« und »Julius Cäsar«. Wir wünschen
ihm, dass all die vortrefflichen Gaben der
Form und des dramatischen Stils, die er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 21, S. 503, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-21_n0503.html)