Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 516
Laus Veneris III. (Swinburne, Algernon Charles)
Text
„Ja, so verpestet bin ich von Gebuhl,
Dass darob schwärzer raucht der Höllenpfuhl“
Schrie ich, worauf der Vater, mild gestimmt,
Mir zusprach und vor seinem heilgen Stuhl
Ich fortfuhr, tief im Staube mein Gesicht,
Bis jäh ein solcher Schrei mich unterbricht,
Wie ihn ein Todter wohl einstmals vernimmt,
Wenn ihn der Weckruf fordert vor Gericht:
„Bis dieser dürre Stamm, der weder Schoss
Noch Rinde hat, in Blüten nicht erspross,
So lange suche nicht Barmherzigkeit
Vor Gott, weil er sein Ohr vor Dir verschloss.“
Wie! Wenn geschieht, was nimmermehr geschehn,
Soll ich die Giftsaat in der Blüte sehn?
Wenn dieser säftelose Stamm gedeiht,
Dann soll aus meiner Sünde Heil erstehn?
Nein, pflückte man vom dürren Stamm auch Frucht
Und schöpfte süsses Wasser aus der Bucht,
So quillt aus diesem Mark doch nimmer Saft —
In alle Ewigkeit bin ich verflucht.
An meinem ganzen Leibe ist kein Theil
Bis zu der kleinsten Faser, die noch heil,
Und des zermorschten Stammes letzte Kraft
Fliesst durch die Adern unfruchtbar und geil.
So kam ich heim, im Herzen recht verzagt.
Und siehe da! Von Bitterkeit zernagt,
Dass Gott die Huld, um die ich ihn beschwor,
Zu meiner Seele Rettung mir versagt —
Da fand ich, theurer mir als die Gewähr
Der ewgen Gnade, SIE, so schön und hehr
Wie ehedem, da sie im goldnen Flor
Des Morgenlichts entstiegen war dem Meer.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 516, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0516.html)