Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 518

Proteus (Wickström, Victor Hugo)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 518

Text

PROTEUS.
Von VICTOR HUGO WICKSTRÖM (Östersund, Schweden).

Hast Du die Sage von Proteus ge-
hört? — Er war ein hellenischer Meer-
gott, der tausend Gestalten annehmen
konnte, war weise wie Zeus und wurde,
obwohl nicht geborener Gott, doch durch
sein tiefes Wissen göttergleich. Seine
Tochter trug den Namen »die Götter-
schöne« und »die Götterkluge«, und seine
Söhne waren so stark, dass nur der Zeus-
sohn Herakles sie besiegen konnte.

Auch unsere Zeit hat ihren Proteus,
obwohl er unter den Menschen lebt und
keine Kinder hat, die im körperlichen
Faustkampf wetteifern können.

Seine Mär ist es, die ich Dir er-
zählen will.

Er war der Sprössling des welten-
stürmenden, gegensatzreichen Christen-
thums, denn nur dieses konnte ein so
seltsames Kind gebären. Er war nicht
schön von Gestalt, aber seine grauen,
scharfen Augen und sein feines Lächeln
machten ihn der Menge unähnlich. Sein
Geburtsort war unbekannt und seine Kind-
heit freudelos.

Unter dem Volke wuchs er auf, und
als er Jüngling wurde, zog er aus auf
Abenteuer. Er sah Menschen und Länder
verschiedener Art und bewahrte in seinem
Innern tiefe Erinnerungen von der Wander-
zeit seiner Jugend.

Als er ein reifer Mann war, erreichte
er die Zinnen der menschlichen Gesellschaft.
Seine Kenntnisse und sein Muth hatten ihm
den Weg bereitet, denn er besass den
scharfen Blick des Wissenschaftsmannes
und das gefürchtete Schwert des Kriegers.
In kurzem war er ein Fürst über ein ganzes
Volk.

Aber das Unheil zögerte nicht, sich
an seinem Herd einzufinden. Mächtige
Feinde rotteten sich zusammen gegen ihn,
sein Heer wurde geschlagen, sein Land
verheert, seine Gattin und seine Kinder

getödtet, und er selbst zog, einsam und
arm, fort von seinem Reiche.

Noch stand er in seines Alters Blüte;
seine Züge waren scharf, aber nicht hart,
seine Sehnen geschmeidig und seine Blicke
drangen spähend bis zu den verborgenen
Gedanken der Menschen. Der ersten tiefen
Verzweiflung folgte ein Gefühl von neu
erwachtem Muth und neuer Kraft. Es war
ihm, als ob er erst jetzt Lust bekommen
hätte, zu leben und die Wechselfälle des
Lebens zu prüfen.

Aber diese Lust wurde rastlos; er
konnte nicht lange auf derselben Stelle
bleiben. Es war, als ob ein unseliger Geist
ihn von Land zu Lande jagte, um alles
zu prüfen und nichts zu behalten.

Er schwang Weihrauchfässer in den
Kirchen und lächelte zu den Ceremonien
der Abergläubischen, zündete Scheiter-
haufen für Ketzer an und verbrannte Bann-
bullen, warf seinen Mantel um wie ein
kühner Rittersmann und verkaufte sich als
Sclave für Schuld, zog aus, um das heilige
Land von den Heiden zu befreien und ver-
kaufte Regenwasser als aus der heiligen
Flut des Jordans genommen. Er sah das
Leben nicht nur von einer Seite; er
lernte sie alle kennen. Er sah, wie Eitel-
keit, Genussucht und Selbstsucht in den
schwellenden Armen des Lebens lagen. Er
wusste, was Lüge war, wenn er auch der
Wahrheit nicht sicher war.

Als er sein volles Mannesalter erreicht
hatte, hatte er Throne gründen und stürzen
sehen, Geschlechter geboren werden und
sterben, Völker sich zur Macht erheben
und zerstreut werden über die Erde. Er
hatte des Bettlers zerrissenes Hemd und
des Fürsten Purpur getragen, hatte unter
den Söldnern des Dunkels gestanden und
das scheinende Banner des Lichtes er-
hoben, hatte des Lebens schwerste Sorgen
geprüft und alle seine tausendförmigen
Freuden genossen. Er zog sich zurück in
die Einsamkeit und liess die Gefühle und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 518, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0518.html)