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Träume seines Innern am Gedächtnis vor-
beiziehen.
Er sah mit dem Auge seiner Seele,
wie das Leben für ihn erwacht war. In
seiner ersten Dämmerung lagen Furcht und
Liebe, Angst und Hoffnung. Die Träume
der Kindheit nahmen die klarere Gestalt
der Jünglingslust an, und mit klopfendem
Herzen und ausgebreiteten Armen war er
hinausgeeilt, hinaus, das herrliche Leben zu
umarmen.
Trotz und Siegerstolz hatten geleuchtet
im Anfang seines Weges als Mann. Die
Menschen hatten sich vor seiner Macht
gebeugt, den Göttertrank der Liebe hatte
er an seine Lippen geführt, die Vater-
freude hatte er geschmeckt und hatte ge-
glaubt, heil und vollfertig auf den Höhen
des Lebens zu stehen. Er hatte die Men-
schen schwach und erbärmlich gefunden,
aber seine Kraft hatte sie beseelt.
Nachdem er von seiner Höhe gestürzt
worden, sah er das Leben weit anders.
Er hatte seine Macht verloren, die ihn
einen Kopf höher machte als alle Anderen,
seine Gattin, das einzige Wesen, das liebe-
voll an seiner Seite gestanden in allen
Stürmen, seine Kinder, von denen er ge-
dacht, dass sie eines Tages sein Werk
weiterführen würden. Die Menschen waren
nicht nur schwache Wesen; sie waren
undankbar, niedrig, verächtlich.
Da hatte er einen Ekel am Leben em-
pfunden, der ihn alles verachten, über alles
trauern liess. Er fand, die ganze Welt wäre
wie ein Invalidenhaus, in dem es nur ver-
stümmelte Menschen gäbe. Alle hatten sie
Verluste erlitten, und alle beschuldigten
sie ihren Nächsten dafür. Trauer lag in
der Tiefe der Seele eines jeden Geschöpfes.
Jeder hatte seine Hölle schon hier in der
Welt; das Ganze war ohne Licht, ohne
Hoffnung und Versöhnung. —
Aber noch hatte er nicht des Lebens
Schauspiel zu Ende gespielt. Er stürzte
sich wieder hinein in das Weltgewimmel,
aber nahm es jetzt wie ein Bacchanal, wo
die Gemüthsstimmung mit dem Gewande
gewechselt wurde. Er war Bettler und
König gewesen, Sclave und frei, gedanken-
los und grübelnd. Hei, wie die Formen
und Farben wechselten! Noch hatte er die
Fähigkeit, zu lachen. Und er lachte zu
diesen bunten Bildern, die einander ab-
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lösten. Das Leben bestand nicht nur aus
Thränen, es gab ein Lächeln, das sie ver-
achtete.
Auf diese Weise tauchten tausend ver-
schiedene Gefühle auf aus dem geöffneten
Kleinodienschrein seiner Erinnerung, aber
er fühlte sich nur noch mehr herab-
gestimmt dadurch. War denn alles ein in-
haltsloser Traum, traurig für Manche,
fröhlich für Andere! War sein Ernst ohne
Tiefe gewesen, seine Freude ohne Wirk-
lichkeit?
Als er darüber grübelte, fiel es wie
Schuppen von seinen Augen. Er hatte vor-
her die Welt nur stückweise gesehen, jetzt
sah er sie ganz.
Jetzt erschien sie ihm wie ein un-
endlich lieblicher Zusammenklang, wo die
Thränen sich in Lächeln lösten und das
Lächeln aufwuchs aus Thränen. Es schien
ihm wahr, dass die Menschen schwache
Geschöpfe waren, aber es lag zugleich auf
der Tiefe ihrer Herzen schimmernd reines
Gold, das dem Leben ewigen Wert gab.
Er sah die ganze Erde vor seinen Füssen,
er sah Sterne und Sonnensysteme; viele
von ihnen wurden dunkel, erloschen und
verschwanden, aber neue Welten tauchten
wieder auf, und der Zusammenklang des
Ganzen blieb immer derselbe. Es war
lebenskräftige, jubelnde Freude, was wie
eine gewaltige Strömung durch das Leben
gieng und auf seinen schimmernden,
spielenden Wellen alle Angst und alles
Weh der Welt trug. Es gab Glauben und
Hoffnung, die die Welten der Zeit und der
Ewigkeit vereinten, es gab Liebe, die einen
wirklichen, festen Grund legte für die Be-
deutung des Glaubens und der Hoffnung.
Nun verstand er, dass es keinen ver-
nichtenden Streit in der Welt gab. Der
Kampf des Wechsels war nur scheinbar
unversöhnlich. Auf der Tiefe war
alles eins.
Wenn er nun Trauer empfand, so war
sie umstrahlt von dem milden Schimmer
der Resignation, und wenn er lächelte,
breitete eine Alles umfassende Liebe Ver-
söhnung über sein Lächeln. Er sah das
Grosse in dem Kleinen; er freute sich
wie ein Kind, obwohl er die ernsten, voll-
löthigen Gedanken eines Mannes hatte.
Er dachte an den Proteus der Hellenen,
der tausend verschiedene Gestalten an-
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