Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 520

Proteus Ein Weltuntergang I. (Wickström, Victor HugoHartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 520

Text

HARTMANN: EIN WELTUNTERGANG.

nehmen konnte und, obwohl nicht geborener
Gott, doch durch sein Wissen den Göttern
gleich wurde. Es schien ihm, als ob die
Welt selbst dieser Proteus wäre, der in
den Jahrhunderten der Jahrhunderte ständig
wechselnde Formen getragen und, obwohl
nicht geborener Gott, doch der Gottheit
immer näher käme.

Auch er selbst war wie Proteus. Wie
hatte er nicht des Lebens buntes Spiel
geprüft, um zum Schluss durch das Wissen
dessen ewigen Zusammenklang zu fassen!

Er fühlte sich einsam. Da aber erklang
aus seinem Innern eine Sehnsucht, der Welt
Zerrissenheit und Einheit, der Menschen
Sorgen und Lächeln zu schildern, das Gold
in der Schlacke zu zeigen, das Sonnenlicht,
das über alle Thränen strömte. Er wünschte
zu versöhnen, wie er selbst versöhnt war.
Er dichtete. So würde er Kinder hinter-
lassen, dachte er sich, eine Tochter, »die
Götterschöne« oder »die Götterkluge«, und
Söhne, die vielleicht siegreicher als Proteus’
Söhne gegen den gewaltigen Spross der
Zeit, Herakles, kämpfen würden.*

* Für die »Wiener Rundschau« übertragen von ELSBETH SCHERING.

EIN WELTUNTERGANG.
Von FRANZ HARTMANN (Torbole, Lago di Garda).
I.

Näher und näher rücken wir dem
Ende dieses Jahrhunderts und auch dem
verhängnisvollen 13. November, an dem,
wie es heisst, unserer schönen Erde durch
einen Kometen der Garaus gemacht
werden soll. Schon öfters während der
letzten Jahrhunderte wurden solche Kata-
strophen prophezeit, und damals wie jetzt
gab es Gegenden, wo der menschliche
Verstand noch in den Windeln lag und
wo, wie jetzt, unwissende Leute ihr
Eigenthum verkauften, um den Erlös,
den sie in das Jenseits doch nicht mit-
nehmen konnten, noch im Diesseits zu
verjubeln. Aber die Prophezeihungen trafen
nicht ein; der Weltuntergang musste aus
nicht näher angegebenen Gründen ver-
schoben werden; das Geld war verjubelt,
aber die Erde dreht sich noch immer,
wie zuvor.

Diesmal aber wird es sicherlich ernst
werden. Nicht nur die modernen Pro-
pheten, sondern die ältesten indischen
Weisen haben für das Ende dieses Jahr-
hunderts grosse Umwälzungen voraus-
gesagt und sogar die Einzelheiten be-
schrieben. Wir nähern uns jetzt (nach

der Zeitrechnung der Brahminen)* einem
grossen Wendepunkte in der Geschichte
der Evolution der Welt, einem bedeut-
samen Zeitabschnitte des Kali-Yuga
oder der dunklen Weltperiode (des
»eisernen Zeitalters«), in dem wir uns
jetzt befinden.

Wir haben die feste Überzeugung,
dass es diesmal ernst werden, dass die
alte Welt untergehen und eine neue er-
stehen wird, aber allerdings nicht in dem
Sinne, wie dies gewöhnlich verstanden
wird. Unsere Erdkugel wird weder ex-
plodieren, noch durch einen Kometen ver-
brannt oder zertrümmert werden, aber
in der Seele der Welt werden grosse
Veränderungen vor sich gehen, und dies
ist von ungleich grösserer Wichtigkeit als
die Veränderungen, welche die sichtbare
Schale betreffen. Die Veränderung wird
nämlich im Gemüthe der Menschheit
selbst vor sich gehen, und das Resultat
eine höhere Weltanschauung und ver-
mehrte Selbsterkenntnis sein, aus der auch
eine andere Ordnung hervorgehen wird.

Ein solcher Weltuntergang hat schon
öfters in der Weltgeschichte stattgefunden;

* Vergl. »Lotusblüten‹. Jahrg. 1893. II., S. 489.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 520, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0520.html)