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Wissen hat ihn nicht besser gemacht.
Tausend Laternen können das Sonnenlicht
nicht ersetzen, tausend Meinungen kein
Ersatz für das Licht der Wahrheit sein,
welches, wenn es im Innern des Menschen
aufgeht, alle Irrthümer wie Wolken zer-
streut.
In England hat sich eine Gesellschaft
zur Verbreitung des »Evangeliums der
Auslegung« (gospel of interpretation)
gebildet, welche die Welt dadurch zu be-
kehren und zu verbessern versucht, dass
sie ihr den Sinn der christlichen Bibel-
allegorien auslegt und ihr somit die Mühe
des eigenen Glaubens und Denkens er-
spart. Würde dieses »esoterische Christen-
thum« überhandnehmen, so wäre dem
Christenthum schlecht damit gedient, denn
das intellectuelle Wissen kann die Aus-
übung des Glaubens nicht ersetzen; der
wahre Glaube aber ist die geistige Kraft
im Innern des Herzens, aus der die wahre
Selbsterkenntnis entspringt, die aber, wie
jede andere Kraft, sich durch eigene
Übung entfalten kann, während der aus
Meinungen zusammengesetzten Kopfge-
lehrtheit nichts anderes als wieder eine
Meinung entspringen kann. Das intellec-
tuelle Wissen ist aus Eindrücken, welche
die Phantasie erhielt, zusammengesetzt;
die wahre Herzenserkenntnis wächst aus
dem Herzen zu Gott empor. Eckhart
sagt: »Die Bibel ist wie das Wasser am
Meeresufer. Dem Einen geht es nur bis
an die Knie, dem Anderen bis an den
Hals, und wer weit hineingeht, dem reicht
es weit über den Kopf hinaus.« Wir
wissen nur Dasjenige mit Bestimmtheit,
was wir durch eigene Kraft in uns selbst
finden, wenn es in uns selber lebendig
wird.
Nichts hat den Geist des Christen-
thums so sehr vertrieben, als die Versuche
eines zweifelsüchtigen Protestantismus,
religiöse Wahrheiten dem rationellen Be-
griffsvermögen mundgerecht zu machen.
Dadurch wurde der erhebende Glaube an
das Ideale erstickt, und ein Aberglaube,
der die unglaublichsten Märchen für
buchstäblich wahr hielt, trat an dessen
Stelle. Christus, die ewige Gottheit in der
Menschheit, wurde zu einer historischen,
sterblichen Person, geradeso wie die
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Götter der Griechen und Römer zuletzt
zu Personen gemacht wurden, und er er-
scheint im modernen Kirchenthum nur
selten mehr als das göttliche Ideal, nach
dem Jeder streben soll, damit es in ihm
selbst offenbar werde. Er ist in der Vor-
stellung der meisten Menschen alles
Mögliche, nur nicht Dasjenige, was er
selber zu sein erklärt: der Weg, die
Wahrheit und das ewige Leben in uns
und in Allem.
Das wahre Wissen ist durch das
eigene Werden bedingt. Das Fürwahr-
halten Dessen, was ein Anderer mir sagt, ist
nicht mein eigenes Erkennen; das Fest-
halten von Möglichkeiten und Wahr-
scheinlichkeiten ist noch kein Glaube an
das Wahre. Es ist ein himmelweiter
Unterschied zwischen einem Glauben an
eine Erzählung, die sich auf einen Gott
bezieht, der fern von uns über den
Wolken thront oder vor Jahrtausenden
auf der Erde erschien, und dem Glauben
an den Gott, dessen Kraft unsere Seele er-
hebt, unser Bewusstsein erfüllt und den
Verstand erleuchtet.
Wie zur Zeit des Unterganges des
römischen Kaiserthums die Welt aus zwei
Parteien bestand, von denen eine die
religiösen Symbole verlachte, weil sie sie
nicht verstand, sich von allem Höheren
abwandte und ganz der Sinnlichkeit und
dem Laster verfiel, während die andere,
weil sie das Ideale vom Menschlichen
getrennt hatte und die Götter als Wesen
betrachtete, welche die Angelegenheiten
der Menschen besorgen, in Unthätigkeit
und Aberglauben verfiel, und wie dadurch
die alte Welt untergieng und die neue
christliche Welt entstand, so ist es auch
heutzutage. Dasselbe Schauspiel wieder-
holt sich stets, wenn auch in veränderter
Form. Auch heutzutage nimmt der Alles
leugnende Unglaube und mit ihm die
Sinnlichkeit immer mehr überhand, während
andererseits die clerical Gesinnten ihr Heil
von allen möglichen äußerlichen Dingen, nur
nicht von der in ihnen selbst erwachenden
Gotteserkenntnis erwarten. Nicht nur in
der Religion, auch in der Philosophie gilt
der Autoritätenglaube über alles. Wenn
man nur weiss, was diese oder jene
Autorität gesagt oder gemeint hat, ist
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