Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 522

Ein Weltuntergang I. (Hartmann, Franz)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 522

Text

HARTMANN: EIN WELTUNTERGANG.

bezeugungen, sei es in diesem Leben
oder im Jenseits, zu erhaschen hofft.
Vergebens mühen sich Theologen, Philo-
sophen und Theosophen ab, den ent-
flohenen Geist des wahren Christenthums
wieder zu erwecken oder den entfliehenden
zurückzuhalten und neuen Wein in alte
Flaschen zu füllen. Die innerliche geistige
Erleuchtung, welche von einem inner-
lichen, durch das Licht der Wahrheit
(der Gnade Gottes) bedingten Erwachen
abhängig ist, lässt sich nicht durch »Er-
klärungen«, Auseinandersetzungen, Argu-
mente und philosophische Speculationen
erzeugen. Die Logik kann wohl den
richtigen Weg zeigen, aber keine Selbst-
erkenntnis verschaffen. Der Geist Gottes
im Menschen steht höher als alle Specu-
lation.

So suchte z. B. Julian den alten
Göttern wieder auf die Beine zu helfen,
indem er die Symbole der Mythologie
erklärte. Er wies z. B. nach, dass der
Mythus von Kybele und Atys eine tiefe
Bedeutung hat; dass, wenn die Götter-
mutter den geliebten Jüngling aus Eifer-
sucht entmannen lässt, weil er in einer
Höhle mit der Nymphe gebuhlt hat, dies
nichts Anderes andeuten will, als »dass
die intelligible Weltursache, die über-
sinnliche Schöpferkraft, dem Streben der
schöpferischen Ursache des Sinnlichen,
in diesem ins Unendliche fortzuzeugen,
Einhalt thut, und dieselbe zu sich, zum
Übersinnlichen zurückwendet.« In ähnlicher
Weise haben viele Mystiker im Christen-
thum: Jakob Böhme, Eckhart und andere
sich bemüht, die Mythen und Symbole
des Christenthums von dem daran haftenden
Aberglauben zu befreien und den wahren
Sinn davon aufzudecken.* Aber solche
intellectuelle Erklärungen können den in
diesen Symbolen lebenden Geist nicht
ersetzen. Sie können höchstens Zweifel,
Missverständnisse und Irrthümer beseitigen,
aber keine Erkenntnis des Geistes er-
zeugen. Man kann niemanden durch
Überredung dazu bringen, heilig zu sein,
wenn er keine Heiligkeit in sich hat,
und ohne diese erkennt er das Heilige
nicht; hat er sie aber, so erkennt er es

und bedarf der Überredung nicht mehr.
Was in sich selbst faul ist, kann durch
keine philosophische Zuthat wieder frisch
gemacht werden, selbst wenn es dadurch
noch für eine Weile geniessbar bleibt;
das Gute empfiehlt sich von selbst.

Was Julian in Bezug auf die Er-
zählungen der Götterlehre sagt, ist auch
in Bezug auf die christlichen Erzählungen
wahr. Dieselben sind nicht geschichtliche
Darlegungen irgend einer Begebenheit,
die sich einmal irgendwo zugetragen hat,
sondern bildliche Darstellungen ewig statt-
findender Vorgänge in der Natur. »Meine
nur niemand« — sagt Julian — »ich
wolle sagen, dass dies einmal so ge-
schehen oder gethan worden sei; dieses
Undenkbare haben vielmehr die Alten,
nach göttlicher (innerlicher) Anleitung, ab-
sichtlich ihren Göttergeschichten ein-
gewoben, um durch das Widersinnige der
äusseren Geschichte die Verständigen zur
Aufsuchung ihrer inneren Bedeutung zu
veranlassen, während den Einfältigen das
äussere Symbol genügen mag.«

Ganz dasselbe ist mit den Erzählungen
der Bibel der Fall. Welches Interesse
könnten dieselben für uns haben, wenn
sie sich nur auf äusserliche Begebenheiten
beziehen würden? Was kann es uns küm-
mern, ob vor ein paar tausend Jahren ein
Mensch namens Abraham ein oder zwei
Weiber gehabt hat, ob Jonas von einem
Haifische verschluckt wurde, oder Joschua
der Sonne stille zu stehen gebot? Der
Ungläubige wendet sich von solchen
»Kindermärchen« ab und den Tages-
neuigkeiten zu, aber der Gläubige fühlt
sich davon angezogen, weil er, auch ohne
deren inneren Sinn zu begreifen, ahnt,
dass ein tieferes Geheimnis dahinter steckt.
Nun kommt der Philosoph und gibt dem
Ungläubigen die richtige Erklärung. Der
Rationalist hört sie an; sie befriedigt viel-
leicht seinen Verstand, und er lässt es
dabei bewenden. Er hat nun wohl seine
Meinung geändert, aber keine neue geistige
Kraft erlangt; sein Wissen ist nicht aus
seinem eigenen Innern entsprungen, son-
dern ihm nur von einem Anderen in den
Kopf gesetzt worden. Das so erworbene

* Siehe F. Hartmann: »Die Symbole der Bibel und der Kirche.« W. Friedrich,
Leipzig 1899.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 522, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0522.html)