Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 524

Ein Weltuntergang I. Acte der Selbstopferung (Hartmann, FranzTolstoi, Leo Graf)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 524

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TOLSTOI: ACTE DER SELBST-OPFERUNG.

man schon gelehrt; dass der Mensch
auch aus eigener Intuition etwas wissen
kann, ist nur Wenigen bekannt.

Wie es den Neu-Platonisten nicht
gelang, dem verschwindenden Götter-
glauben durch die Bekanntgabe ihrer
Philosophie ein neues Leben einzublasen,
so wird es auch ihren jetzigen Nach-
kommen, den Theosophisten, nicht ge-
lingen, durch ihre Auseinandersetzungen,
Erklärungen und Classificationen der hin-
scheidenden Welt einen neuen Geist ein-
zuhauchen. Sie könnten im besten Falle
eine richtigere Vorstellung vom Gange
der Natur an die Stelle unrichtiger
Vorstellungen bringen, aber einem ver-
wesenden und zerfallenden Körper Leben
einzuhauchen, ist eine Unmöglichkeit.
Nirgends in der Geschichte findet sich
ein Beispiel von Wiederbelebung eines
todten Systems. Alte Formen vergehen,
neue werden geboren, und den neuen
haucht der Geist Gottes das Leben ein.
Was kein menschlicher Scharfsinn zu-
stande bringt, das bewirkt das Gesetz
Gottes in der Natur, das Gesetz des Ab-
scheidens und der Wiederverkörperung,
der Erneuerung in allen Reichen, wobei
immer edlere Formen zum Vorschein
kommen, fähiger als die vorhergehenden,
den ihnen innewohnenden Geist zum
Ausdruck zu bringen, und was keine

Macht der Überredung bei einem Schlafen-
den bewirken kann, das bewirkt ein
Augenblick des Erwachens.

Jetzt heisst es, dass die alte Schmiere
untergehen soll, in welcher so viele
Tausende eine Rolle spielen, der sie nicht
gewachsen sind, und etwas vorstellen, was
sie nicht sind. Dafür soll eine neue
Bühne erstehen, in welcher Jeder lernen
wird, dasjenige zur Geltung zu bringen,
was er seinem Wesen nach ist. Die
kommenden Geschlechter sollen aus dem
blinden Autoritätenglauben herauswachsen,
Jeder sein eigenes wahres Wesen, seine
eigene höhere Natur kennen lernen und
Alles von sich abstreifen, was nicht zu
dieser gehört. Da soll der Mensch
lernen, Gott nicht in den Häusern zu
suchen, sondern sich selbst als den Tempel
Gottes und den Geist Gottes in sich
selber erkennen. (I. Korinth. III, 1 b).
Nicht um Untergrabung der Autorität
wird es sich da handeln, sondern darum:
derselben zu entwachsen; nicht um Will-
kür, sondern um den Sieg der Freiheit,
den nur Derjenige gewinnen kann, der
die schwere Kunst erlernt hat, das Gesetz
zu erkennen und sich selbst zu beherrschen.
Dann erst wird die Menschheit das
wahre Christenthum kennen lernen, wenn
der Geist Christi in das Bewusstsein der
Menschen gekommen ist.

(Artikel II folgt in nächster Nummer.)

ACTE DER SELBST-OPFERUNG.
Von LEO TOLSTOI (Jasnaja-Poljana).

Denken wir uns Menschen — Mann
und Weib: Gatten und Gattin, Bruder
und Schwester, Mutter und Sohn — die
einer begüterten Classe angehören und
es gut begriffen haben, wie sträflich es
ist, angesichts der Dürftigkeit des aus-
gebeuteten Volkes ein schwelgerisches und
müssiges Leben zu führen.

Stellen wir uns vor, dass diese Leute
dem Überflusse entsagen, die Stadt ver-
lassen und beispielsweise nur eine jährliche

Rente von hundertundfünfzig Rubeln für
sich selber bewahren; oder dass sie diese
Summe, falls sie für sich nichts zurück-
legen, durch eigene Erwerbsthätigkeit —
wie: Malen auf Porzellan, Übertragung
guter Bücher etc. — zu verdienen suchen.
Sie leben also auf dem Lande, inmitten
eines russischen Dorfes, in einem kleinen
Häuschen, das sie gemietet oder gekauft
haben; sie bebauen einen Gemüsegarten,
züchten Bienen und kommen gleichzeitig

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 524, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0524.html)