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den Bauern zu Hilfe: sie leisten Pfleger-
dienste, falls sie etwas von Medicin ver-
stehen, schreiben ihnen die Briefe, lehren
ihre Kinder lesen u. s. w.
Kein anderes Leben scheint erhabener
als dieses. Es ist aber eine Hölle oder
muss zur Hölle werden, wenn jene hilf-
reichen Leute nicht Heuchler sind, wenn
sie sich nicht selbst belügen. Sie entsagen
dem Wohlstand, dem Luxus, den Genüssen,
die das Geld und die Stadt gewähren,
und thun dies nur aus dem einzigen
Grunde, weil sie alle Menschen als gleiche
Brüder vor einem Vater betrachten, nicht
gleich durch Fähigkeiten und Würden,
wohl aber gleich durch ihr Recht auf
das Leben und auf all Das, was es bieten
kann. Diese Leute haben die Stadt ver-
lassen, um unter Bauern zu leben, weil
sie an jene menschliche Verbrüderung
glauben, die nicht in Worten, sondern in
Handlungen zum Ausdrucke kommt, und
weil sie diese Brüderlichkeit, soweit das
wenigstens in ihren Kräften steht, in
That umsetzen wollen.
Und dieses Experiment bringt sie nun
— sofern sie ohne Falsch sind — in
eine entsetzliche Lage. Sie sind Ordnung,
Comfort und namentlich Reinlichkeit ge-
wöhnt, kurz: all die von Kindheit an
geübten Gewohnheiten und Zustände; sie
sind ins Dorf ausgewandert, haben ein
Häuschen gemietet oder gekauft, haben
es von Ungeziefer gereinigt. Vielleicht
haben sie auch die Wände mit Tapeten
beklebt und einige unentbehrliche, schmuck-
lose Möbelstücke hineingestellt: ein Eisen-
bett, einen Schrank, einen Schreibtisch.
Und da warten sie nun.
Anfangs flieht sie das Volk, denn es
glaubt, dass sie, wie alle Reichen, ihre
Güter mit Gewalt behüten werden, und
deshalb begehrt es nichts von ihnen. Aber
nach und nach treten die Absichten der
neuen Bewohner zutage. Man erfährt,
dass sie ohne jedwedes Entgelt bereit
sind, Dienste zu leisten. Die Beherztesten
und Bedürftigsten stellen zuerst aus Er-
fahrung fest, dass die Neuangekommenen
nichts abzuschlagen pflegen, und es strömen
nun — jeden Tag zahlreicher — allerlei
Bittschriften zu. Schliesslich sind das
keine Bitten mehr, sondern formelle Ge-
suche um Theilung der überschüssigen
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Habe. Und zu gleicher Zeit empfinden
es diese hilfreichen Leute, die sich in
dem Dorfe niedergelassen haben und
täglich dem Volke vertrauter werden,
als unabweisliche Nothwendigkeit, allen
Uberschuss den Bedürftigen hinzugeben.
Und nicht nur, dass sie jene Noth-
wendigkeit empfinden, all ihren Überfluss
herzugeben — sie können nicht auf-
hören in ihrem Spenden, weil um sie
herum stets grosses Elend ist, neben dem sie,
wie sich herausstellt, immer noch Über-
flüssiges besitzen. Man glaubte, sich ein
Glas Milch aufbewahren zu können, aber
bei Matrena sind zwei Säuglinge, die
keine Milch mehr in den Brüsten ihrer
Mutter finden und dem Tode nahe sind
Man glaubte, ein Kissen und eine Decke
behalten zu dürfen, um nach einem Tage
schwerer Arbeit, wie man es gewohnt
war, ausruhen zu können — aber der
Kranke liegt auf seinen krätzigen Kleidern
und friert des Nachts, weil er keinerlei
Lumpen besitzt, mit denen er sich be-
decken könnte Man glaubte, Thee
und Nahrungsmittel aufheben zu können,
muss sie jedoch den alten und schwachen
Wanderern reichen Man glaubte, sein
Haus rein erhalten zu können, aber Bettel-
jungen sind gekommen, man hat ihnen
ein Nachtlager gewährt — und sie haben
dafür Ungeziefer zurückgelassen
Man kann nicht aufhören — und wo
sollte man aufhören? Nur Jene, die das
Gefühl für menschliche Verbrüderung nicht
kennen, das diese hilfreichen Menschen
ins Dorf kommen liess, nur Jene, die so
sehr gewöhnt sind, zu lügen, dass sie den
Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit
nicht mehr zu sehen vermögen, werden
sagen können, dass eine Grenze existiere,
wo man aufzuhören habe. Nein, diese
Grenze, die das Gefühl zu einer rohen
Handlung treibt, gibt es nicht; und gab
es dennoch eine Grenze, so war eben
dieses Gefühl nicht echt, sondern er-
heuchelt.
Ich fahre fort, mir diese hilfreichen
Menschen vorzustellen.
Sie haben den ganzen Tag gearbeitet
und sind nun heimgekehrt; sie haben
keine Bettstelle mehr, kein Kissen; sie
schlafen auf Stroh, das sie gefunden haben,
und schlummern ein, nachdem sie ein
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