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Heute endlich komme ich dazu, Ihnen
mein Versprechen einzulösen und einen
Aufsatz über die Psychologie des neuen
Stils zu senden, das heisst — fertig ist
er noch nicht, aber ich will ihn heute
beginnen. Damals nämlich, als Sie mir
Ihre gütige Aufforderung sandten, war
ich so ganz mit den Sorgen und Mühen
beladen, die einen Theaterdirector, der
sein eigener Regisseur sein will, belasten,
dass ich keinen Augenblick Ruhe und
Sammlung fand, meinen Aufsatz zu
schreiben. Und doch wieder: die Regie
einem anderen zu überlassen, dazu kann
ich mich nicht entschliessen. Ich begreife
es nicht, dass das so viele Directoren
thun; denn gerade bei dem neuen Stil
in der Schauspielkunst ist ja der Regisseur
die Seele des Theaters. Freilich ist es
ja jetzt Sitte geworden, Geschäftsleute
oder »feinsinnige« Literaten an die Spitze
grösserer Theater zu stellen, aber was
nützt die beste Geschäftsführung und die
sicherste Literaturkenntnis, wenn niemand
da ist, der die Proben als Regisseur im
höheren Sinne leitet? Ein Hauptaugenmerk
des neuen Stils ist ja doch die feine
Abtönung und die Dichtigkeit des En-
sembles, das Zusammenspiel der auftreten-
den Personen:
»Allein bedenken wir, dass Harmonie
des ganzen Spieles allein verdienen kann,
von Euch gelobt zu werden, dass ein
Jeder mit Jedem stimmen, alle miteinan-
der ein schönes Ganzes vor Euch stellen
sollen denn hier gilt nicht, dass
Einer athemlos dem Andern heftig vorzu-
eilen strebt, um einen Kranz für sich hin-
wegzuhaschen.«
Solche Merkmale eines modernen En-
sembles kann nur ein Regisseur zur That
werden lassen, der selbst Gefühl für die
zweite Forderung des neuen Stils hat:
Natürlichkeit. Freilich muss er auch
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praktische Kenntnis von dem Wege haben,
auf dem diese nach Unabsichtlichkeit
aussehende, ungezwungene Leichtigkeit
erreicht werden kann:
»Alles geht natürlich, als hätte es
keine Mühe, keinen Fleiss gekostet. Aber
dann, wenn eben das gelingt, wenn alles
geht, als müsste es nur so gehen, dann
hatte Mancher sich vorher den Kopf zer-
brochen, und mit vieler Mühe war endlich
kaum die Leichtigkeit erreicht.«
Kaum war nun der Vorhang über
meine Bühne zum letztenmale gefallen,
so fuhr ich nach Helgoland, um dort
neue Kräfte zu sammeln. Und da wurde
aus dem Schreiben erst recht nichts. Der
urewige Stil machtvoller Natur, die un-
gebrochene Kraft frei waltender Elemente
nahm mich so völlig gefangen, »dass
ich das höchste Recht, das Menschen-
recht, das mir Natur vergönnt, um
Deinetwillen nicht freventlich verscherzen
wollte.« Und es war noch etwas, was
mich hinderte, über den neuen Stil zu
schreiben. Gleichzeitig mit mir waren
sieben Theaterdirectoren und so viele
Dichter, Verleger und Schauspieler dort,
von denen mir jeder versicherte, ihr Stil sei
der einzig richtige, dass ich es nicht
mehr wagen konnte, auch noch selbst
eine eigene Meinung zu haben, geschweige
denn, sie niederzuschreiben.
Das ganze Elend der Stillosigkeit
unserer deutschen Bühne, »auf der ein
Jeder, was er mag, probiert,« kam mir
mit grauenhafter Deutlichkeit zum Be-
wusstsein, und es wurde mir klar, »dass
unsere Kunst mit grossen Schwierigkeiten
zu kämpfen hat, vielleicht in Deutschland
mehr als anderswo«! Nun aber zur
Sache!
Was den neuen Stil vor allem kenn-
zeichnet, ist »der Drang nach Wahrheit«
— beinahe hätte ich hinzugefügt »und
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