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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 527

Text

TOLSTOI: ACTE DER SELBST-OPFERUNG.

schen durch ihre Lebensführung zu reali-
sieren.

»Wenn wir hier nicht leben können,
inmitten dieser Menschen, auf dem Dorfe«
— werden Jene sagen, an die ich denke
— »wenn uns die Lage der Dinge zwingt,
entweder, von Ungeziefer zerfressen, eines
langsamen Todes zu sterben oder der
einzigen sittlichen Basis unseres Lebens
zu entsagen, so hat das seinen aus-
schliesslichen Grund darin, dass die Reich-
thümer bei den Einen, die Entbehrungen
bei den Anderen angehäuft sind. Diese
Ungleichheit entspringt der Gewalt. Die
Basis alles Übels ist die Gewalt. Sie also
ist es, wogegen wir zu kämpfen haben.«

Es gibt nur ein Mittel, das gestatten
würde, den Menschen zu Hilfe zu kommen,
ohne sein Leben dafür aufopfern zu müssen:
man vernichte die Gewalt und deren Frucht,
die Sclaverei. Aber wie diese Gewalt ver-
nichten? Wo ist sie? Im Soldaten steckt
sie, im Wächter, im Amtmann, im Schlosse,
das meine Thüre schliesst. Wo und wie
kann ich gegen sie ankämpfen? Es gibt
Menschen, die von der Gewalt leben und
an der Seite der Gewalt kämpfen und mit
Gewalt die Gewalt besiegen. Aber ein
Mensch ohne Falsch kann nicht die Gewalt
bekämpfen mit Gewalt. Das hiesse: ein
altes Übel ersetzen durch ein neues. An
einer intellectuellen Entwicklung arbeiten,
die auf Gewalt beruht, hiesse: handeln wie
die Anderen. Das mit Gewalt erworbene
Geld zum Heile von Menschen verwenden,
die durch Gewalt unglücklich geworden,
hiesse: mit Gewalt die Wunden heilen, die
sie gerissen. Selbst der Einzelfall, den ich
angeführt habe: den Kranken zu sich nicht
herankommen lassen, ins eigene Bett ihn
nicht aufnehmen, die drei Rubel ihm nicht
geben, weil man sie für sich selber braucht
und der Stärkere ist, — — auch dies ist
Gewalt. Und eben darum zieht der Kampf
gegen die Gewalt in unserer Gesellschaft
für Jeden, der brüderlich leben will, die
Nothwendigkeit nach sich, sein eigenes
Leben hinzuopfern.

Wie hart und schwierig ist die Lage
des Menschen, der ein christliches Leben
lebt, in einer Welt, allwo die Gewalt herrscht!
Es gibt keinen anderen Ausweg als den
Ringkampf, die Aufopferung — die Auf-
opferung bis ans Ende. Man muss diese
abgründige Kluft sehen, die von den Über-
sättigten und Begüterten die Hunger-
leidenden und Krätzigen trennt. Sie aus-
zufüllen, bedarf es der Opfer, nicht aber
jener Heuchelei, die uns helfen soll, den
Boden dieser Kluft zu verdecken. Man
kann nicht in sich selber den Muth finden,
in sie hinabzustürzen. Aber auch nur ihren
äusseren Umfang zu bemessen, ist Keinem
möglich, der das Leben sucht. Man kann
sich nicht in sie hineinstürzen, aber man
muss sich eingestehen, dass sie da ist, und
nicht auf Mittel sinnen, um sich selber zu
täuschen und zu belügen.

Und diese Kluft ist nicht einmal so
entsetzenerregend; in jedem Falle um
vieles weniger, als die Monstrositäten,
die vor uns auf dem Wege des gesell-
schaftlichen Lebens liegen. Die Möglich-
keiten, an Ungeziefer, Krankheit und Elend
zu sterben, wenn man den Menschen hilf-
reich seine Habe gibt, sind viel geringer
als die Todes-Chancen, die man in Manövern
und Kriegen zu gewärtigen hat.

Das schwarze Brot und das Elend
scheinen sehr entsetzlich. Dennoch lässt sich
der Schrecken, den sie einjagen, bemessen;
und wie jenes Kind, das sich mit beiden
Händen an die Wände eines Brunnens
klammerte, in den es gefallen war, und
nun eine ganze lange Nacht darin in
Schauern hieng, so schreckt auch uns die
Furcht vor der imaginären Tiefe des
Wassers: einen halben Meter nämlich
unterhalb des Knaben war der Boden des
Brunnens trocken

Aber man muss nicht trockenen Boden
erhoffen; man muss in den Tod willigen.
Diese Liebe, von der ich spreche, ist die
einzige Liebe, die ein ununterbrochenes
Opfer bis zum Tode fordert.*

* Für die »Wiener Rundschau« übertragen von MARGARETE LINDNER.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 2, Nr. 22, S. 527, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-02-22_n0527.html)